Inhalt:
ROSA: DIE ENTBLÖSSTE FARBE
Barbara Nemitz
NÄHE
Barbara Nemitz
DAS FELD DES ABSURDEN BESTELLEN
Hans Gercke
DAS SCHÖNE LEBEN
Barbara Nemitz
IM WALDESDOM
Gerhard Kolberg
MALEREI MIT ERLOSCHENEN FARBEN
Ruth Irmgard Dalinghaus
LANDSCHAFT IM SCHAUKELN
Lucius Burckhardt
WIRF DICH DER NACHT IN DIE ARME,
DIE SYNTAX DER ROMANTIK
Bernhard Buderath
DIE SEELENSTREICHLER
Wolfgang Becker
Mit der Pastellfarbe Rosa verbinden sich Konnotationen wie: Sensibilität, Zartes, Jugendliches, Irreales, Exzentrisches, Süsses, Verletzliches und Lustvolles. Die Farbe umfasst die “high and low culture”. Sie wird manchmal als unangenehm, gar peinlich empfunden und andererseits genossen, oder sie verbindet sich ganz schlicht mit der Vorstellung von Schönheit. Rosa, die Farbe mit den emotionalen, widersprüchlichen Faktoren, ist bisher kaum ernsthaft wahrgenommen worden. Im Gegensatz dazu gibt es in den den Bildenden Künste bis hin in die aktuellsten Produktionen immer wieder kräftige, markante Werke, die die subtile Farbe brillant in Szene setzen.
Attraktiv für die Arbeit mit Rosa ist die ihr innewohnende Ambivalenz. Ihrer Hintergründigkeit näher zu kommen, und sie unmittelbar differenziert zu zeigen, ist der Antrieb für die künstlerische Auseinandersetzung damit. Mit Rosa wird Position bezogen.
"Nicht der Verstand, sondern das Gefühl bestimmt unser Verhalten", sagte Sigmund Freud und auch neuste Untersuchungen der Gehirnforschung bestätigen seine Behauptung. (1) Mehr als bei allen anderen Farben wird Rosa mit Emotionen verbunden. Sie scheint eine Farbe zu sein, die sich mit solch intensiver Ausstrahlung an uns richtet, daß sie eine regelrechte Herausforderung an unsere Empfindungen darstellt. Demnach wäre Rosa, eine derjenigen Farben, die deutlichen Einfluß auf unser Verhalten ausübt. Gefühle und Empfindungen sind äußerst individuell, komplex und schwer zu kommunizieren.
Künstler gehören zu den Spezialisten, die mit dem Instrumentarium "Empfindungen" professionell umgehen. Künstlerische Werke sind umfassend, das heißt sie sind neben ihrer rationalen Ebene, vor allem sinnlich wahrnehmbar.
Das Vermögen Farbe empfinden zu können und zu deuten, ergibt sich aus dem Zusammenwirken der sinnesphysiologischen Vorgänge des Sehens und aus erlernten Verknüpfungen, die der betreffende Mensch mit vorherigen Seherfahrungen erworben hat. Oft überlagern sich verschiedene Bedeutungen und bilden einen beziehungsreichen Zusammenhang. Rosa ist eine Farbe, die sich vielfältiger als andere an unsere Sinne richtet: an die Augen: sie vereinigt das Weiß, d. h. Helligkeit und Licht mit der dominanten Farbe Rot, die Wärme und Aktivität ausstrahlt. an den Tastsinn: die menschliche Haut, das Organ, das für das körperlich Fühlen überhaupt zuständig ist, die Empfindung der Nähe den Geschmack: das Süße, Fruchtige den Geruch: das Blütenhafte.
Die gesellschaftliche Bewertung der Farbe Rosa zeigt Extreme. Man scheint genau zu wissen, wo Rosa sein darf und wo nicht. Auffallend ist, daß sich bei der Akzeptanz von Rosa die Geschlechter unterscheiden. Rosa stößt bei den Frauen auf deutlicheres Interesse. Dagegen gibt es nur wenige Männer, die sich überhaupt mit Rosa beschäftigen wollen. Die Mehrzahl von ihnen lehnt Rosa generell ab. (2) Diese Erfahrungen haben wir auch in unseren beiden Arbeitsgruppen in Tokio und in Weimar gemacht. An beiden Orten war der überwiegende Teil der Arbeitsgruppe weiblichen Geschlechts. Was führte sie dazu sich mit der Farbe beschäftigen zu wollen? Die Möglichkeit endlich identitätskonform zu arbeiten ? Es war jedoch eher die distanzierte Neugier, etwas über ein Farbspektrum herauszubekommen, das gemeinhin im Abseits steht, oder sogar tabuisiert wird. Einige der jungen Künstlerinnen sprachen sogar von einer Belastung der eigenen (weiblichen) Identität durch die Konnotationen der Farbe.
Umwerten, aufwerten oder neu bewerten ist ein grundlegendes Arbeitsprinzip in der Kunst. Wertloses Material wird durch seine Verwendung im Kunstkontext wertvoll, da andere Aspekte, als die konventionellen entdeckt und geschätzt werden. Um Rosa könnte es dabei auch gehen. Das was ihm innewohnt wartet nur darauf, unter anderen Bedingungen wahrgenommen zu werden. Was aber steckt in Rosa und was macht sein Wesen aus? Farbe hat kein sprachliches Pendant. Insofern sind es die nachfolgenden Bilder und Kontexte, die die Eigentümlichkeiten von Rosa einkreisen.
Rosavision/ High & Low
In der Natur kommt Rosa selten vor. Es gehört nicht zu den Spektralfarben des Regenbogens. Trotzdem gibt es Lichterscheinungen, die diesen Farbbereich wiedergeben. Das Abendrot tendiert zum einem gelblichen Rosa und auch das Licht am frühen Morgen erscheint in Rosatönen. Bei der Morgenröte verschwindet die Dunkelheit der Nacht. Kühle wandelt sich in Frische. Das dunkle Blau verblaßt. Rosa Farbtöne erscheinen. In ihnen kündigen sich die Strahlen der Sonne, Licht und Wärme an. Zu dieser Zeit verliert der Himmel seine unendliche Ferne. Er scheint sich durch die leicht rötliche Färbung der Erde anzunähern. Das sind Momente der Verheißung!
Die oft zitierten "Rosa Wolken" reflektieren es und auch der Schnee kann rosafarben leuchten. Rosafarbenes Licht in den Aggregatzuständen des Wassers ist immer wieder dargestellt worden. Bekannt sind Phänomene wie das "Alpenglühen", dann ist Rosa eine Farbe, die die Landschaft unwirklich schimmern und aufleuchten läßt. –
Im Gegensatz zum hellen Tageslicht ist gerade der Moment des anschwellenden oder schwindenden Lichtes und der flüchtigen Erscheinung wichtig. In diesen kurzen Zeitspannen gewinnt Rosa eine existentielle Bedeutung. In seiner stetig und unweigerlich voranschreitenden Veränderung ist es eine sanfte Markierung vom Anfang oder Ende des Tages. Die kurzen Zeitspannen des sich rosa verfärbenden Himmels, bedeuten darüberhinaus: Vergänglichkeit. Rosa verweist auf das Irdische, das Sterbliche. Rosa ist eine Farbe von kurzer Dauer und geht schnell vorüber. Für die Empfindung der Farbe Rosa ist dies ein wichtiger Faktor. Die Verbindung von Rosa mit Vergänglichkeit ist ein Bezug der Farbe zu den Themen der Romantik. In unseren Städten können wir die Lichterscheinungen weniger stark erleben. Trotzdem ist möglicherweise etwas von diesem Bewußtsein noch in uns vorhanden.
Jedes Glück, jeder Genuß ist nur dann einer, wenn er nicht von Dauer ist. Rosa ist eine Farbe von kurzer Dauer. Dieser Bezug wird in der Natur wiederum deutlich wenn Rosa als Farbe von Blüten auftritt. Die Farbträger, die Blütenblätter, sind zart und empfindlich, ganz im Gegensatz zu den grünen Blättern. Ihre Lebensdauer jedoch, ist wesentlich kürzer.
In vielen Sprachen bezieht sich der Farbname auf die häufigsten Blüten dieser Farbe: die Rose, oder die Nelke. Neben anderen Kontexten verbindet sich Rosa in Japan mit der Kirschblüte “Sakura”. Das Naturereignis ist gleichzeitig ein hochgeschätztes Kulturereignis. Alljährlich widmet man sich ausgiebig der Betrachtung der Wolken rosa blühender Bäume und den nach wenigen Tagen “herabschneienden” Blütenblättern. Sie sind das Symbol für den Tod junger Krieger, der Samurai, die in der Blüte des Lebens im Krieg fallen. Beim Anblick scheinen die sich durchdringenden Empfindungen von Schönheit und Schmerz eine tragende Rolle zu spielen. Das Wissen um die Endlichkeit steigert die ästhetische Ausstrahlung von Rosa. Ein weiterer interessanter Aspekt liegt darin, dass die zarte Farbe hier einer männlichen Thematik zugeordnet wird.
Rosa vermittelt schon eine Ahnung der milderen Temperaturen und ist eine Farbe des Frühlings und des Aufblühens. Das "Erröten" der Blüten strahlt eine zarte erotische Wirkung aus. Zusammen mit dem ausströmenden Duft, betören sie nicht nur die Insekten, die dadurch angelockt werden, sondern auch den menschlichen Geruchssinn. Der Duft von Rosen ist einer der ältesten Parfumgrundstoffe. Weitere rosafarbene Blüten, deren Schönheit hochgeschätzt und die teilweise verehrt werden sind: die Lotusblüte in Indien, die Päonie in China und im Mittelmeerraum die Nelke.
In der Welt des Wassers und der Meere kommt Rosa in bizarren ungewöhnlichen Naturformen vor: Korallen, Muscheln, Schneckenhäuser. Tiefseeschnecken und ihre Gelege besitzen blütenhafte Formen. Man kann sich fast ihre weichen Bewegungen im Wasser vorstellen. Mir scheinen sie die Sanftheit der Farbe weiterzuführen. Rosafarbene Perlen gibt es übrigends sehr selten. An Land kennen wir vor allem ein Tier, das eine rosafarbene Haut haben kann. Es ist das Hausschwein. In makellos sauberem Rosa ist es vom bloßen Fleischliefereranten zum Glücksbringer geworden, ganz im Gegensatz zu seinen wild lebenden, farblich unscheinbaren Verwandten. Ein anderes Tier, das ausschließlich mit Rosa in Verbindung gebracht wird, ist der Flamingo. Ohne die Färbung seines Gefieders – die auf Grund der Nahrung von bestimmten Krebsen entsteht - wäre er sicher ein Vogel unter vielen, so aber ist er zum ultimativen Symbol für südliche Exotik geworden. Pink Flamingos sind eine Art Paradiesvogel mit dem sich die Sehnsucht nach einer Traumwelt verbinden läßt. Sie vereinen mehrere der Farbe Rosa zugeschriebene Eigenschaften in sich: das wenig Erdverbundene, abgehobene leichte, und körperlich Fühlbare, durch ihr weiches Gefieder. Wenn sie dann in Schwärmen fliegen, könnte man meinen eine vorbeiziehende rosa "Federwolke" zu sehen. Rosa ist eine warme, weiche und leichte Farbe. Durch Federn materialisiert, spürt man die anschmiegsame Anmutung fast körperlich. Diese leichte, erotische Ausstrahlung hatte wohl der britische Modeschöpfer John Galliano im Sinn als er rosa Federn unter den Röcken seiner Modelle anbrachte.
Sensibilität ist eine der Hauptempfindungen, die wir mit Rosa verbinden. Sie hat einen Ursprung im Bewußtsein, das Rosa auch die Farbe der Haut sein kann und vor allem der Körperhöhlen. Die Haut, unser flächenmäßig größtes Organ der Wahrnehmung, ertastet Eigenarten von Substanzen, Zuständen und Befindlichkeiten. Wir orientieren uns damit. Interessant ist hier auch die umgekehrte Richtung der Wahrnehmung. Durch die Fähigkeit etwas sinnlich wahrzunehmen, spüren wir uns selbst und gewinnen Selbstvertrauen. Unmittelbar verweist die Farbe der Haut auf den inneren Zustand in dem wir uns befinden. Der Zustand "nackt" zu sein ist mit Schutzlosigkeit gleichbedeutend. Der Mensch wird nackt geboren. Die dünne, rosafarbene Haut ist außerordentlich verletzbar. In Situationen wo großer Mut öffentlich gezeigt wird, kann man den Mut durch Nacktsein steigern, ungeschützt, unbewaffnet, demonstrativ die verletzbare Seite zu zeigen. Mit diesem Bezug spielt die offensiv zur Schau gestellte Nacktheit. Stärke, Eros und Macht vereinigen viele allegorische Figuren der Freiheit auf sich.
Ein Eldorado für die malerischen Möglichkeiten von Rosa, ist die Darstellung der nackten Figur. Hier kann der Fleischton, das "Inkarnat" inszeniert werden. Dabei zeigt sich, daß Rosa in außerordentlich nuancenreichen Mischtönen erscheinen kann. Dadurch, das es als Pastellfarbe bereits sehr viel Weiß enthält, bietet es eine ideale Basis für weitere feinste Abmischungen. Es entsteht ein ausgefeiltes Farbspektrum, mit dem sich feinste Modulationen ausdrücken lassen, die der Betrachter auch erkennen kann.
Über das körperliche Gefühl hinaus zeigt die Haut auch das seelische Befinden. Innere Zustände werden nach Außen gekehrt. Wenn einem vor Entsetzen das Blut in den Adern stockt, wird man blass. Beim Gegenteil, wenn man errötet, ist Aktivität zu spüren. Das kann extrem bei Wut und Zorn sein, oder aber bei Verlegenheit und im Zustand des Verliebtseins. Das innerliche Gefühl durch das aufwallende Blut, wirkt sich auch auf die Sicht nach außen aus. Die Umgebung erscheint rosiger. Das wohlige, verliebte Gefühl, ... es verändert die Sicht.
Rosa ist eine Vorstufe zu Rot, das die große erfüllte Liebe bedeutet. Die Farbe kann sich dahin entwickeln, Rosa ist spannend, ist das Sehnsüchtige, das Ahnungsvolle noch Unerfüllte, das Verheißende, ist der geistig-seelische Bereich der Liebe. Rosa ist Erotik. In diesem Zusammenhang ist Rosa weltweit verbreitet. Weitere Genüsse bereitet Rosa durch Geschmack und Geruch. Es schmeckt süß, und riecht blumig, fruchtig süß, so wie keine andere Farbe sonst. Süßes ist allgemein beliebt und ist eine primäre Geschmacksempfindung auf der Zungenspitze. Süßigkeiten und Süßspeisen dienen dem Menschen weniger als Nahrung. Sie sind etwas Besonderes, und haben vor allem einen Zweck: Lusterfüllung. Die Konsistenzen der Kuchen und Nachtische sind häufig weich und cremig. Sie zergehen auf der Zunge, oder werden gelutscht, was die orale Befriedigung noch verstärkt. Möglicherweise tragen diese lustvollen Empfindungen auch zur Beliebtheit der Farbe bei Kindern bei. Das Süße wird in Verbindung zu Kindern auch das Niedliche. Und die niedlichen Kleinen werden die Süßen! Kunststoffspielzeuge und Puppen für kleine Mädchen zeigen einen gnadenlosen Einsatz von Rosa. Rosa überlagert sich hier bei Mädchen auch schon mit dem Rosa als Farbe des Weiblichen.
Die Verbindung von Rosa mit dem Weiblichen ist historisch unterschiedlich stark gewesen. Im Rokoko, einer Zeit der Pastellfarbenmode, trugen auch Jungen und Männer rosa Anzüge. Sinnliches Empfinden bis hin zur Verspieltheit zeigte sich hier bei der höfischen Gesellschaft. In der heutigen Zeit und in der jüngeren Vergangenheit wird Rosa vor allem von Mädchen und Frauen getragen. Allen emanzipativen Anstrengungen widersprechend, findet es sich in der Männer- und Jungenbekleidung immer noch selten. Einzelne Vorstöße werden in dieser Hinsicht werden hin und wieder gemacht. Zur Zeit ist es modern rosafarbene Oberhemden zu tragen, mit denen der Träger etwas weicher und zugänglicher erscheint. Bei der Bekleidung von Frauen wird Rosa meist mit Stoffen von besonderer Empfindlichkeit verwendet. Sie unterstützen den weichen und feinen Charakter der Farbe. Farbe und Stoff verweisen attributiv auf Eigenschaften, die die Mädchen und Frauen verkörpern sollen wie: gefühlvoll, sanft, freundlich, erotisch. Es gilt als erwiesen, daß sich das Äußere auch auf das innere Verhalten auswirkt. Anziehen ist auch eine Form des Anerziehens. Andererseits wählen Frauen auch strategisch subversiv diese Kleiderfarbe. So hat sich Rosa zu Zeiten der Frauenbewegung zu einer selbstbewussten Farbe entwickelt. Rosa ist allerdings bereits seit langem mit den Homosexuellen verbunden. Es wurde zu der Farbe, die demonstrativ die Andersartigkeit zeigt und bewusst gewählt, um sich vom üblichen Männerbild abzusetzen.
Im Design und in der Architektur tritt Rosa selten auf. Wenn ganze Bauwerke eine rosa Fassade haben, so bedeutet dies in den meisten Fällen eine Zeichensetzung für das Außergewöhnliche. Frank Gehry stilisiertete sein privates, schlichtes Einfamilienhaus, das er als noch wenig bekannter Architekt in Santa Monica /Kalifornien kaufte und mit fragmentarischen Architekturdetails umgab, zusätzlich durch die rosa Farbgebung in eine spielerische Architektur. Schon vor ihm hatte Louis Barragán weiter südlich in Mexiko 1963-1967 mit dem San Cristobal Stable and Egerstrom House, sowie mit Los Clubes Rosa als strahlende, selbstbewußte Farbe auf den sachlichen, großen Flächen der Architektur ausgeführt. Eine Vielzahl von rosafarbenen Häusern gibt es in Florida und Kalifornien. Nicht von ungefähr sind in Gegenden dieser Art eine Vielzahl von Beispielen zu finden. Sie demonstrieren die Erwartungen, die man an das Leben dort hat. Den Bewohnern geht es gut. Sie führen ein angenehmes, ja traumhaftes Leben. Rosa gibt Architekturen etwas mühelos Schwebendes. Der Körper eines Baues verliert die Schwere. Ob Rosa als "Farbe die alles leichter werden läßt" dem Besitzer und Herausgeber der Financial Times, Douglas MacRae bekannt war habe ich nicht herausbekommen können. 1893 entschloss er sich dazu, die Zeitung nicht mehr auf weißem, sondern auf rosa Papier zu drucken. Aus London wurde mir lediglich mitgeteilt, es sei zur besseren Unterscheidung gegen die konkurrierenden Wirtschaftszeitungen getan worden. Der Farbwechsel hat sich jedenfalls gelohnt. Von da an verkaufte sich die Financial Times besser als ihre Mitbewerber. Auf rosafarbenen Untergrund liest sich manches angenehmer.
Daß Rosa das Bild schönt, diese Erscheinung kann man ganz einfach erreichen. Man setzt die vielzitierte "Rosa Brille" auf und schon zeigt sich alles in einem angenehmeren Licht. Es ist die Filterwirkung, die Störendes nicht mehr erkennbar macht. Das Bild, das sich nun dem Betrachter bietet, ist geschönt. Dazu las ich aus China die erstaunliche Meldung, dass selbst Hühner die Welt lieber rosarot sehen. Nachdem man bei einem Experiment 180 Hühnern rosa Kontaktlinsen gab, wurden sie ruhiger und ihre Eierproduktion stieg. "Think Pink" ist eine Parole, die störende Zweifel und Grübeleien aus den Gedanken verbannen soll. Mit der Realität verbundene Zweifel werden beiseite gelassen, damit sie Ideen nicht schon im Vorfeld ersticken. Sie stammt aus dem Amerika der 50er Jahre und ist im Zusammenhang mit der Kreativitätsforschung zu sehen. Mit Rosa wollte man die Phantasie beflügeln. Populär gezeigt wurde das Motto "Think Pink" im Musicalfilm "Funny Face" indem die Redakteurinnen eines Frauenmagazins von da an ideenreich und mit Elan in ihrem umdekorierten - nun rosafarbenen Büros – neue, interessante Modereportagen produzierten. Auf diese Filmsequenz hat sich auch Derek Jarman in seinem Film "The Garden" bezogen, als er unter anderen Vorzeichen – Rosa als Farbe der Homosexuellen - eine vor rosa nur so überbordende "Homage" eingebaut hat.
Rosa ist die Farbe der Fantastik. Grenzen werden überschritten. Rosafarbene Tiere entfernen sich vom Animalischen. War nicht schon der Flamingo mehr Kunstfigur als Tier? Erst recht ist es der "Pink Panther". Typischerweise ist es eine Trickfilmfigur. Der Trickfilm ist die Filmgattung, in der alles Unmögliche möglich wird. Rosa steht dafür, nicht mit der mühseligen Realität und den üblichen Normen verbunden zu sein.
Sich vom Alltäglichen zu distanzieren, ist eine Rolle in der Rosa immer wieder auftritt. Es ist die Extravaganz, das Besondere, das hier gezeigt wird. Am Hofe Ludwig XV. war es seine Mätresse, Madame de Pompadour, die Rosa als ihre Lieblingsfarbe kultivierte. Auch in jüngerer Zeit zeigen sich weibliche Stars gerne in einer wilden Mischung aus freizügigen und unschuldig wirkenden Roben. In den 80igern machte die pinkfarbene Corsage, die Jean Paul Gaulthier Madonna auf den Leib geschneidert hatte den Anfang. Dann folgten Peaches, Pink und andere in rosafarbenen Outfits.
Aber es gibt auch die Klassiker. - Eine kleine Gruppe besonders wohlhabender Damen in hohem Alter kleidet sich konsequent und hemmungslos von Kopf bis Fuß in rosa. Manche gestalten oft auch ihre Umgebung farblich passend dazu aus. Sie alle leisten sich Rosa, das sie ja eigentlich, da es der Jugend zugeschrieben wird, nicht tragen "dürften" und zeigen damit Entschiedenheit, Unabhängigkeit und Macht! Eine besonders entschiedene Frau, die jahrzehntelang an der Spitze ihres eigenen Geschäftsimperiums stand, war Elisabeth Arden, die Besitzerin und Gründerin des gleichnamigen Kosmetikkonzerns. Auch sie liebte es üppig von Rosa umgeben zu sein und wurde sogar bei ihrer Beerdigung 1966 in einem rosafarbenen Kleid des Modeschöpfers Schiaparelli beerdigt.
Eine besondere Eigenschaft von Rosa, die ich hervorheben möchte, ist die Friedfertigkeit, die jedoch nicht mit Machtlosigkeit zu verwechseln ist. In einer Kunstaktion malte der tschechische Künstler David Cerny 1991 einen sowjetischen Panzer auf den Sockel eines Denkmals rosafarben an. Der Panzer war ein Denkmal für den ersten sowjetischen Panzer, der im Mai 1945 nach Prag kam. Es gibt kaum eine dramatischere Art, ein Symbol zu verändern, als die Verwendung von Rosa als Demonstration der Harmlosigkeit. Die olivgrüne Militärtarnung hatte ihre Brauchbarkeit deutlich überdauert und sich für alle sichtbar in ihr Gegenteil verwandelt. Was folgte, war eine wahre Malschlacht. Einige Tage später strich die tschechische Armee den rosa Panzer in dunklem Olivgrün um. Das brachte die Abgeordneten der Bundesversammlung (Parlament) zum Handeln und strich den Panzer rosa um. Heute ist der Panzer im Luftfahrtmuseum Kbely ausgestellt.
Nachdem ich die Farbe Rosa in den unterschiedlichsten Kontexten diskutiert habe, möchte ich die wichtigen Eigenschaften der Farbe zusammenfassen: In der Natur vorkommend, verbinden wir Rosa mit dem Flüchtigen, Leichten, Blumigen, Süßen, Kindlichen, Jugendlichen, Erotischen und Seltenen. Im kulturellen Kontext mit dem Lieblichen, Zärtlichen, Erotisierenden, Traumhaften, Unwahren, Falschen, Künstlichen, mit Übertreibungen, mit Luxus ebenso wie mit Armut, oder einfältigen Massenprodukten. Rosa ist die Farbe der Ausschweifungen und des Exzentrischen. Rosa ist wie es ist und verstellt sich nicht. Daß die Farbe in letzter Zeit so modern geworden ist, mag daran liegen, daß sie herausfordernd und kompliziert ist. Dessen war man sich schon im Rokoko bewußt. Mit ihr umzugehen, will gekonnt sein. Rosa ist entlarvend.
Für den Einsatz in der künstlerischen Arbeit bedeutet das, daß man ungewöhnliche Kongruenzen und Widersprüchlichkeiten damit aufbauen kann. Das funktioniert mit Rosa, wegen der Breite der sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten, besonders ausgefeilt. Rosa Farbtöne können sehr unterschiedlich aussehen und wirken.
Zusammen gesehen ist das die Erfüllung auf allen sinnlichen Ebenen. Die Ästhetik ist das die Sinne betreffende. – Wenn man nun die Fülle der oben genannten Erlebnismöglichkeiten berücksichtigt, so lässt sich daraus schließen, dass Rosa eine besonders ästhetische Farbe ist: „Rosa ist Schönheit“.
Der Wunsch nach ‚La vie en rose’, ist der Wunsch nach einem Leben in vollkommener Schönheit. Dies ist ein Ideal. Das könnte auch ein Grund dafür sein, dass Rosa von vielen Menschen abgelehnt wird. Das Schreckgespenst ist die Rolle des naiven Träumers. Oder geht es vielleicht um Genußfeindlichkeit, oder das Bedürfnis alles unter Kontrolle zu haben? Das wäre zu kurz gegriffen. Rosa ist zu schön, um wahr zu sein. Wenn man jedoch mit dem Begriff Wahrheit nicht nur "Realität" oder "Realisierung" verbindet, sondern ihn umfassender denkt, dann kann sich eine neue Sicht auf Rosa ergeben. Die Schönheit von Rosa läßt sich dann akzeptieren, wenn Wahrheit unter Einbeziehung des Irrealen und des Ideals verstanden wird. Hier liegt der Wechsel der Perspektive. Das rosafarbene "Alpenglühen" könnte kontemplativ betrachtet werden, wenn man dazu bereit ist, als Reales auch Träume, Ängste und Sehnsüchte zuzulassen. Es gehört Mut dazu Empfindungen wahrzunehmen. Beim Kitsch - und dort spielt Rosa eine Hauptrolle - werden Anmutungen und Empfindungen gezielt angesprochen. Sehnsüchte und Gefühle werden ausgelöst, ... aber immerhin, sie werden sichtbar und man zollt ihnen ernsthaft Aufmerksamkeit. Eines der bekanntesten Bilder des amerikanischen Künstlers Barnett Newman heißt „Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau?“ Aber vielleicht hat man ja weit mehr Angst vor Rosa? Muß man sich vor Rosa hüten? Diese, so unmittelbar mit Gefühlen verkoppelt Farbe ist unheimlich. Ihre Ausstrahlung unterläuft die Barrieren der Ratio. Rosa ist subversiv entlarvend. Die Ambivalenz der Farbe Rosa entsteht durch den Widerspruch die gesellschaftlichen Normen mit persönlichen Empfindungen in Einklang zu bringen. Rosa, die unterschätzte Alltagsfarbe berührt viel vom Unausgesprochenen, was Menschen bewegt. Rosa ist unsachlich, o.k., aber das Sachliche ist nur ein Teil des Lebens,…in gewisser Weise ist Rosa eine großzügige Farbe. Rosa ist die Farbe des "High and Low".
Barbara Nemitz, Berlin 2005
(1) Kast, Bas, "Die Macht der Gefühle", Berliner Tagesspiegel, 23.06.02, S. 7
(2) Heller, Eva, Umfrage bei 1888 Frauen und Männern,veröffentlicht in: "Wie Farben wirken", Rohwohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1989
Deutscher Originaltext, England. Fassung in: Pink – The Exposed Color in Contemporary Art and Culture
Cantz Verlag, Ostfildern 2006
Auf die Frage nach der eigenen Existenz gibt es im menschlichen Denken keine logische Antwort. Haben wir nicht immer in die Natur hineingesehen, um etwas über uns herauszubekommen? Mit lebenden Pflanzen zu arbeiten, hat etwas Intimes und zugleich Visionäres.
Lebende Vegetation als Bestandteil kultureller Werke begegnet uns in Gärten mit profanen, religiösen und mystischen Bedeutungen. Haben die in diesem Buch gezeigten künstlerischen Arbeiten, die bis auf wenige keine Gartenanlagen sind, mit den bisherigen traditionellen Zielsetzungen etwas zu tun? Die hier präsentierten zeitgenössischen Werke mit lebender Vegetation sind im Kontext Freie Kunst entstanden. Welche Qualitäten der Pflanzen werden eingesetzt? Welche Konnotationen und Metaphern werden damit verbunden? Welche neuen Fragen und Perspektiven werden eröffnet? Welche Positionen vertreten die Künstlerinnen und Künstler, die lebende Pflanzen in ihren Werken verwenden?
Sicherlich hat die gegenwärtige Phase des offenen Stilpluralismus den Einsatz von lebenden Pflanzen befördert. Weitere Beweggründe sind so unterschiedlich wie das, was heute in der Kunst thematisiert wird. Das Gemeinsame und gegenüber der Arbeit mit toter Materie grundlegend Andere der Arbeiten mit Pflanzen ist, daß dem Ego des Künstlers etwas Lebendes gegenübersteht. Werke mit Pflanzen sind sich entwickelnde, prozessuale Formen innerhalb zeitlicher Dimensionen. Sie werden in der Verlaufsform konzipiert und enthalten Lebensplanungen. Im Gegensatz zur Arbeit mit »toter Materie« zeigen Pflanzen durch die ständigen Anforderungen an die Erfüllung ihrer Lebensbedürfnisse Abhängigkeiten.
Mit lebenden Pflanzen zu arbeiten, gleicht einer Regiearbeit und ist ein interaktiver Kommunikationsprozeß. Reize und Reaktionen ketten sich aneinander. Der künstlerische Eingriff manipuliert an lebenden Vorgängen, die ihrerseits – als Feedback - wieder bestimmte Bedingungen an die Art der künstlerischen Arbeit stellen. Die Form ist die Handlung. Sie spiegelt sich im Lebensprozeß anderer Organismen. Künstler und Betrachter können sich selbst innerhalb einer lebenden Gesamtheit erfahren, und die Rollen vom Produzenten und Rezipienten verschieben sich hin zum Teilnehmer. Die » Vitale Realität« Pflanze mit ihren interaktiven Möglichkeiten bekommt heute als Feld der echten Naturerlebnisse angesichts der » Virtuellen Realität« eine neue Bedeutung. Dabei wird vielfach nicht von Natur in einem umfassenden Sinne ausgegangen, sondern von einer Natur, die in Ausschnitten interessiert.
Medium Vegetation
Von Vegetation geht eine ambivalente Exotik aus. Sie ist gleichzeitig fremd und vertraut. Sie existiert erdgeschichtlich schon lange. Sie ist außerdem ein Bestandteil unserer Vorstellung von Landschaft. Vegetation läßt die Landschaft weich und anschmiegsam erscheinen. Ihr Anblick evoziert spürbare Empfindungen auf der Haut. Vegetation ist der Pelz des Körpers Landschaft.
Pflanzen sind ein radikales Gegenüber. Der Wortsinn von radikal, radicalis: an die Wurzeln gehend, weist in eine Richtung, die für unsere Wahrnehmung von Pflanzen bedeutsam ist. Pflanzen sind meist eingewurzelt und fest mit der Erde verbunden. Im Unterschied zu Mensch und Tier bewegen sie sich kaum von Ort zu Ort. Ihre Bewegung ist eher ein Ausdehnen und Entfalten. Der Prozeß des Wachstums ist ein metamorphes Werden und Vergehen, meist langsam, jedoch kontinuierlich voranschreitend. Pflanzen verändern sich am Ort, im Biotop. Das läßt Vegetation, läßt Pflanzen trotz ihrer sich im fließenden Wandel befindlichen Gestalt verläßlich erscheinen. Pflanzen erscheinen still. Wenn wir ein Rascheln oder Rauschen hören, dann ist es ein vom Wind verursachtes Geräusch, das durch die Resonanz der Vegetation erklingt. Die Lautlosigkeit und die Bindung an den spezifischen Standort mögen dazu führen, daß Pflanzen eher passiv und deshalb dinghaft wahrgenommen werden. Das kommt der Möglichkeit entgegen, sie wie ein Material zu verwenden.
Pflanzen existieren standortbezogen. Sie besiedeln die zu ihnen passenden Gebiete, und die Eigenheiten der Orte werden durch sie weiter ausformuliert. Sie teilen mit, welche Verhältnisse dort herrschen und sind ein Indikator für die Lebensqualität. Pflanzen sind überhaupt: Lebenszeichen.
Die Ausstrahlung vielfältiger Sinnesreize ist eine vitale Charakteristik von Vegetation. Düfte, Gerüche, Farben, Formen, Strukturen überlagern und verbinden sich und sind herausfordernde Angebote an das Empfindungsvermögen. Als Medium im Kunstwerk verwendet, hat dies nachhaltige Bedeutungen. Die von der Arbeit ausgehenden Informationen gewinnen eine größere Dichte und Tiefe, da nicht nur das vom Menschen Erdachte und Hergestellte präsentiert, sondern auch das vom Menschen letztlich nicht Erklärbare, das Andere, Bestandteil des Werkes ist. In dieser lebenden Substanz ist mehr enthalten, als wir wissen.
Die Fähigkeit sich zu äußern, gehört zu den fundamentalen Charakteristika des Lebens. Beispielsweise können Reaktionen in artspezifischen »Verhaltensweisen« sichtbar werden. Diese expressive Kompetenz wohnt auch den Arbeiten mit lebenden Pflanzen inne. Sie bedeutet für die künstlerische Arbeit, daß das Werk nicht nur von außen wahrgenommen werden kann. Die hinzukommende Dimension ist: Bestandteile des Kunstwerkes besitzen die Fähigkeit, selbst etwas wahrzunehmen und darauf mit der Komplexität des lebenden Organismus differenziert zu reagieren. Dies teilt sich direkt oder indirekt auch dem Betrachter mit.
Durch das Einbeziehen von lebenden Organismen wird die Präsenz der Kunstwerke gesteigert. Das Bewußtsein um die Veränderlichkeit der ihnen innewohnenden Lebensprozesse erhöht die Möglichkeit, die formalen Zusammenhänge der künstlerischen Arbeiten nicht nur als statischen Reiz wahrzunehmen, sondern in einer umfassenden Weise zu erleben. Das Interesse an lebenden Vorgängen ist ein direkteres als an toten Materialien. Werke mit lebender Vegetation nutzen diese Möglichkeit, zu berühren, indem sie zusätzlich eine emotionale Nähe herausfordern können. (…)
In diesem Zusammenhang begann ich 1993 das Projekt Künstler Gärten Weimar, dessen Bestandteil auch dieses Buch ist. Ich bin an einer Arbeit interessiert, bei der nicht die Fertigstellung oder Ausführung eines Werkes das Ziel ist, sondern die in Lebensformen sichtbar wird. Die Arbeit an den KünstlerGärten ist das Experiment der Seinsweise als Erkenntnisprozeß. Der Titel KünstlerGärten ist als Arbeitsbegriff gewählt worden, der ein offenes Handlungsfeld bezeichnet. Meine künstlerische Arbeit sehe ich hier darin, Strukturen und Rahmenbedingungen zu initiieren, die die Grundlagen dafür bilden, Positionen zeitgenössischer Künstler, die lebende Vegetation in ihrem Werk einsetzen, zu präsentieren und ihre besonderen Qualitäten bewußt werden zu lassen. Das gesamte Vorhaben dauert noch an und ist, für einen Garten angemessen, in die Zukunft gedacht. Um die Thematik von mehreren Seiten anzugehen und mit verschiedenen Rezeptionsmöglichkeiten zu operieren, besteht das Projekt KünstlerGärten nicht nur aus den Werken mit Pflanzen in Weimarer Arealen, wo seit 1995 zwanzig Arbeiten realisiert wurden. Mehrere miteinander verbundene Arbeits- und Handlungsebenen als Foren des Austausches existieren parallel: die Vortragsreihe für Künstler und Wissenschaftler, die projektbegleitende Zeitschrift wachsen, das Lehrprojekt im Studiengang Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar, die Grafikedition, die Führungen und schließlich das Archiv, » trans PLANT - Lebende Vegetation in der zeitgenössischen Kunst«, aus dem dieses Buch entstanden ist. (…)
Barbara Nemitz
Text aus: „trans | plant – Living Vegetation in Contemporary Art“, Hg. Barbara Nemitz, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 2000
„Der Schmerz im Angesicht des Schönen, nirgends leibhaftiger als in der Erfahrung von Natur, ist ebenso die Sehnsucht nach dem, was es verheißt, ohne daß es darin sich entschleiere, wie das Leiden an der Unzulänglichkeit der Erscheinung, die es versagt, indem sie ihm gleichen möchte.“
Theodor W. Adorno (1)
Es scheint ein weiter, windungsreicher Weg zu sein, der von den malerischen Anfängen der Kunst von Barbara Nemitz über diverse Installationen bis hin zu jener Rauminszenierung führt, die in diesem Katalog dokumentiert wird. Indes erweist sich bei genauerer Betrachtung, daß dieser Weg eher geradlinig, jedenfalls folgerichtig verläuft. Er zeigt, was heute nicht selten der Fall ist, daß „Stil“ und „Handschrift“ stärker als früher „nach innen“ genommen wurden, nicht mehr an formalen Äußerlichkeiten festzumachen sind. (…)
Deutlicher vielleicht noch als bei der Betrachtung der in Heidelberg realisierten Installation wird dieser Paradigmenwechsel vom Einzelwerk zur komplexen kommunikativen Strategie, wenn man das Projekt der Künstlergärten betrachtet, das Barbara Nemitz als Professorin an der Bauhaus-Universität Weimar derzeit realisiert und aus dem sich zweifellos die Idee zur Heidelberger Inszenierung herleiten läßt. Zu ihrem Gartenprojekt stellt die Künstlerin fest: „Bei meiner Arbeit Künstlergärten' gehe ich nicht von einem Endprodukt aus, das es zu realisieren gilt, sondern sehe die Formen in ihrer Veränderung. Alles reagiert und agiert im ständigen Miteinander, ist aufeinander bezogen und abhängig“. Und an anderer Stelle: „Die gesamte Arbeit an meinem Projekt Künstlergärten ist die Form meiner künstlerischen Arbeit. Diese Form ist ein sich entwickelnder und ständig verändernder Prozess, bei dem ich mit dem Leben arbeite. In vielschichtigen kommunikativen und interaktiven Beziehungen mit dem Lebendigen, dessen Teil ich bin, möchte ich etwas entstehen lassen. Es werden sich Einzigartiges, Charakteristisches, Gemeinsames und innere Verwandtschaften in den Beziehungen zeigen“. (4)
Mit dem Hinweis auf übergreifende kunsthistorische Zusammenhänge ist es jedoch nicht getan. Der Blick auf das frühere Schaffen von Barbara Nemitz zeigt, bei schon damals bemerkenswerter Bandbreite und Flexibilität der gestalterischen Mittel und stilistischen Idiome, nicht nur das Festhalten an einer durchgehenden Thematik - die Landschaft, die Schönheit-, sondern, damit zusammenhängend, auch eine von Anfang an zu beobachtende Tendenz zur Ausweitung der traditionellen Möglichkeiten des Tafelbildes, von dem Barbara Nemitz ausging, und zur Entwicklung komplexer und dynamischer Systeme.
Landschaft war für Barbara Nemitz nie etwas Isoliertes im Sinne einer motivischen Festlegung, vielmehr immer zugleich und vor allem Reflexion über unser Verhältnis zu ihr, synonym für eine Schönheit, die um so nachhaltiger erlebt wird, je schmerzhafter die Distanz bewußt wird, die uns von ihr scheidet. Denn bekanntlich wird Natur immer erst da als „schön“ erlebt, wo man sich ihrer Gefährdung, ihres Verlustes, auch der als Verlust erlebten Trennung von ihr bewußt wird. „In Zeitläufen, in denen Natur dem Menschen übermächtig gegenübertritt ist fürs Naturschöne kein Raum: agrarische Berufe, denen die erscheinende Natur unmittelbar Aktionsobjekt ist, haben, wie man weiß, wenig Gefühl für die Landschaft“, weiß Adorno. Und: „Über lange Perioden steigert sich das Gefühl des Naturschönen mit dem Leiden des auf sich zurückgeworfenen Subjekts an einer zugerichteten und veranstalteten Welt; es trägt Spuren von Weltschmerz“.(5) Nicht von ungefähr trägt eine der eindrucksvollsten Installationen von Barbara Nemitz, die dem Betrachter einen aktiven Part zuweist - auf der Schaukel ihre Bilder in Bewegung erlebend, vor und zurückschwingend, sanft oder heftig, sich wohlig wiegend, sich annähernd und wieder entfernend, eintauchend und wieder auftauchend – den Titel ,,Schönheit und Schmerz“.
Über die Relation von Natur-Schönheit und Kunst-Schönheit ist viel philosophiert worden. Adorno bringt in seiner „Ästhetischen Theorie“ dieses Verhältnis auf den plausiblen Nenner: „Kunst ahmt nicht Natur nach, auch nicht einzelnes Naturschönes, doch das Naturschöne an sich“.(7) Dies trifft gewiß auch auf die Arbeiten von Barbara Nemitz zu, doch darüber hinaus ist es eben dieser Themenbereich, der den Inhalt ihrer Arbeit ausmacht Wenn sie ihn behandelt, so sucht sie nicht die vergebliche Identität, sondern trachtet danach, sich dem Geheimnis der Schönheit gerade im Zwischenraum beider Bereiche, im vollen Bewusstsein der Distanz, anzunähern. Dieses „Annähern“ aber ist nur als Moment der Bewegung, als Prozess, als dynamischer Vorgang denkbar.
Daß „das Schöne“ sich prinzipiell nicht definieren läßt, ist Barbara Nemitz natürlich bekannt, daß es zu jenen Axiomen gehört, die uns selbstverständlich erscheinen, evident und in sich plausibel, allerdings nur solange, wie wir sie nicht rational zu erfassen versuchen „Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe bestimmt, was schön sei, geben“, stellte schon Kant fest, „denn alles Urteil aus dieser Quelle ist ästhetisch; d.i. das Gefühl des Subjekts, und kein Begriff eines Objekts, ist sein Bestimmungsgrund“.(8) Genau darin aber sieht Barbara Nemitz die entscheidende Herausforderung: „Mich interessiert „Schönheit als umfassender Begriff, als Vorstellung, der ich mich nähern kann, die letztendlich aber nicht darstellbar ist. Ich glaube, es ist in der Kunst sinnvoll, an Dingen zu arbeiten, die nicht zur Vollendung kommen können“, notierte sie in einem 1997 verfaßten Text.(9)
Barbara Nemitz, die ihr Werk ganz und gar der Tradition der Romantik verpflichtet weiß, hat sich dem Thema des Schönen verschrieben, und diese Recherche verbindet die unterschiedlichsten Äußerungen und Facetten ihres Schaffens miteinander. Sie sucht nicht die Konfrontation – und sei es die mit dem konventionellen Tafelbild–, sie bemüht sich vielmehr um Integration, um Versenkung, um Identifikation. Dabei scheut sie keineswegs die Berührung mit Klischees, mit dem Kitsch, beteuert gar, danach befragt, sie meine, was sie formuliere, keineswegs ironisch. Im Defizit sucht und findet sie das Desiderat, in der Perversion das Echte, Wahre, Schöne. In dieser Suche manifestiert sich die Kontinuität und Radikalität ihrer Arbeit.
Die Anfänge - etwa das starkfarbig gemalte Matterhorn (!) von 1972 - zeigen die Nähe zur Pop Art und zum Abstrakten Expressionismus. Natur wird als etwas längst Vermitteltes zitiert und reflektiert. Adorno spricht in seiner Ästhetischen Theorie von der „Erkenntnis, daß Natur, als ein Schönes, nicht sich abbilden läßt. Denn das Naturschöne als Erscheinendes ist selber Bild. Seine Abbildung hat ein Tautologisches, das, indem es das Erscheinende vergegenständlicht, zugleich es wegschafft. Die keineswegs esoterische Reaktion, welche die lila Heide und gar das gemalte Matterhorn als Kitsch empfindet, reicht weit über derlei exponierte Sujets hinaus: innerviert wird darin die Unabbildbarkeit des Naturschönen schlechthin“(10) und bringt damit das alttestamentliche Bilderverbot in Verbindung, von dem er sagt, es habe „neben seiner theologischen Seite eine ästhetische. Daß man sich kein Bild, nämlich keines von etwas machen soll, sagt zugleich, kein solches Bild sei möglich. Was an Natur erscheint, das wird durch seine Verdoppelung in der Kunst eben jenes Ansichseins beraubt, an dem die Erfahrung von Natur sich sättigt“.(11)
Barbara Nemitz verdoppelt nicht. Im Unterschied zur kitschigen Reproduktion betont sie die Künstlichkeit der Bezugnahme, die Distanz somit, die überhaupt erst zum Bewußtwerden der Schönheit führt, aber sie thematisiert - in der wehenden Weichheit seiden verschleierter Tücher, auf die sie ihre Landschaften aufbringt, zugleich die Sehnsucht und Sensibilität des Betrachters. Die Ausstellungssituation, auf die hier angespielt wird, hat schon viel von einer Raum-Inszenierung, zumal hier, 1980 im Wilhelm-Lehmbruck-Museum Duisburg, eine unmittelbare Konfrontation von „künstlichen“ Landschaftsbildern und Ausblick in die ,reale" (Park-)Landschaft gegeben war.(12)
Es folgten großformatige, dramatische Landschaftsbilder ,heroisch“- romantischen Stils, die auf Pergamin und Batist gemalt wurden und mit ihrem transluziden Charakter neue Wirkungen und auch neue Inszenierungsweisen ermöglichten bis hin zur Promenade der „Nachtlandschaften“, einer Inszenierung im Berliner Tiergarten, bei der Landschaftsbilder durch große Feuer durchleuchtet und von wandelnden Sängern musikalisch interpretiert wurden (1987). Wieder führte die Annäherung von Bild und Vorbild nicht zur Vermischung, sondern erzeugte ein Spannungsfeld, indem Distanz bewußt gemacht wurde, eine unauflösbare und gerade deshalb als Aufgabe gestellte Aporie, in dem der Betrachter als Akteur auf Geschichte und damit auch auf sich selbst verwiesen wurde. In der Heidelberger Ausstellung ,,Blau-Farbe der Ferne” (1990) gestaltete Barbara Nemitz einen glühend roten Raum, aus dem in blassem, zartem Blau sich wie Fenster (Aus- oder Ein-) Blicke in die uns damals, vor der Wende, noch so fernen Landschaften der Mark Brandenburg („Perlen im Sande der Mark“, erstmals gezeigt im Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1982) eröffneten.
In Heidelberg nun hat Barbara Nemitz zehn Tonnen Erde – keineswegs sorgsam gesiebte, sondern grobe, mit Steinen und Wurzeln untermischte – in die elegante, moderne Ausstellungshalle des Kunstvereins bringen lassen und allein damit schon einen provozierenden Kontrast geschaffen. Doch nicht genug damit: Diese Erde wurde mit schimmernden Fäden ornamental bestickt, freilich keineswegs flächendeckend, sondern eher sparsam und beiläufig, so, als ob hier und da etwas aufkeimen und Form gewinnen, sich blütenhaft entfalten würde, etwas, was dem Substrat, aus dem es erwuchs, seltsam fremd und doch eigenartig vertraut und verwandt schien.
Immer wieder führt die Künstlerin den Betrachter in das Spannungsfeld der Verunsicherung. Gewißheit und Geborgenheit gibt es nicht, gerade deshalb aber ist Annäherung möglich. Hier ist eine mehrfache Brechung zu beobachten, anders als in den folgenden Beispielen, die fast so etwas sind wie die Verheißung einer Erfüllung. Denn auf der Galerie ergänzten Fotos die Präsentation, in denen gezeigt wurde, wie Barbara Nemitz das Verfahren, Erde zu be-sticken, auch in der „freien Natur“ angewandt hatte, wo – anders als auf der „nackten“ Erde in der Ausstellungshalle – die seidenen Fäden und Muster nicht nur durch eine überraschende Affinität zur umgebenden Flora verblüfften, sondern auch, in Fotoserien dokumentiert, mit der Zeit tatsächlich von der umgebenden Natur nicht etwa isoliert, ausgesondert und abgestoßen, sondern im Gegenteil integriert und amalgamiert, überwuchert und zum Schluß regelrecht aufgelöst wurden.
Ein „Lebendes“ Beispiel solcher „Symbiose“ war ebenfalls Bestandteil der Ausstellung: Eine bestickte Moosinsel, die durch eine Plastikplane vor dem Austrocknen bewahrt wurde. Bezeichnenderweise legte die Künstlerin keinerlei Wert darauf, die Plastikabdeckung „ästhetisch“ zu gestalten – genauso wenig, wie sie sich beim Besticken des großen Erdfeldes um „kunsthandwerkliche“ oder dekorative Effekte bemühte. Ganz im Gegenteil – genau diese suchte sie zu vermeiden. Nicht um die Herstellung eines „schönen Produktes“ ging es ihr, sondern um die Geste, um ein Sich-Verhalten also, eine Aktion, eine Tätigkeit. Bezeichnenderweise erhielten Ausstellung und Installation denn auch einen Titel, der den Akzent auf ein Tätigkeitswort lenkte: Nicht das schöne Leben“ im Sinne einer Eigenschaft war das Thema, sondern eine Haltung: „Das Schöne (zu) leben“.
In der hier besprochenen Rauminstallation geht es Barbara Nemitz, anders als vielen Kollegen und Kolleginnen, nicht so sehr um einen konkreten Raum, mit dem sie sich gezielt auseinandersetzt, ihre Arbeit ist weniger ortsspezifisch als vielmehr übertrag- und somit auch anderswo realisierbar. Worauf es ankommt, ist die Schaffung eines Erlebnis-Raumes, in den der Betrachter eintritt, ja eintaucht. Er wird zum aktiven Mitspieler, auch wenn seine Rolle hier, anders als bei der eindrucksvollen Installation mit den Schaukeln (13), „nur“ im Schauen besteht. Es ging und es geht, wie bereits mehrfach angedeutet, der Künstlerin immer um Prozesse, um Bewegung, und bewegen muß sich der Betrachter auch, um diese Inszenierung erfassen zu können, sich von ihr bewegen zu lassen.
In diesem Zusammenhang kommt der nicht nur anachronistisch, sondern im gegebenen Kontext auch reichlich absurd anmutenden Aktion des Stickens eine besondere Bedeutung zu. Daß es dabei nicht um Dekoration geht, wurde bereits ausgeführt. Wichtig ist vielmehr die Geste. „Sticken“, sagt Barbara Nemitz, „ist intensiver als Zeichnen“, ist „formalisierte Zuwendung“. Das Ergebnis verweist nachhaltig auf ein Handeln, auch, wenn de Betrachter dessen selbst nicht ansichtig geworden ist. Natürlich wird immer wieder die Frage gestellt, wie dies denn überhaupt möglich, wie technisch machbar sei. Doch diese Frage führt am Entscheidenden vorbei: Der Intensität einer absurd erscheinenden Hinwendung, einer geradezu erotischen Zuwendung, die meditativen Charakter hat, große Sorgfalt und Konzentration voraussetzt, größtmögliche Nähe sucht, innige Berührung, Eindringen in das Fremde, Andere, die in der Verletzung Bindung ermöglicht.
„Das Schöne leben“ bedeutet für Barbara Nemitz nicht eine ästhetische Stilisierung des Alltags, wie er etwa in der höfischen Gesellschaft des Rokoko oder in den Salons des Jugendstils praktiziert wurde, sondern aktive, teilnehmende, anteilnehmende Zuwendung. Diese Kunst versteht sich nicht als ökologischer Fingerzeig, wohl aber als Geste, in der Natursubstanz und menschliches Produkt, menschliches Handeln miteinander in Verbindung gebracht werden. Fremdheit und Nähe treten in ein dialektisches Verhältnis zueinander, das modellhaften Charakter haben kann, womöglich entgegen aller Vernunft. Erde besticken: Das ist wie auf dem See wandeln, wie Wasser in einem Sieb tragen, oder, um den Beispielen aus Bibel und Heiligenlegende noch solche aus der neueren Kunstgeschichte beizufügen, wie eine Wasseroberfläche bedrucken (Shimotani) oder sie mit Säge und Drillbohrer bearbeiten (Plessi). Manchmal ereignet sich ja das Wunder, und das Unmögliche wird möglich. „Das Feld des Absurden bestellen“, nennt Barbara Nemitz diese Arbeit.
Hans Gercke
(1, 5,7,) Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, zitiert nach Michael Hauskeller, „Was das Schöne sei“, dtv wissenschaft 1994
(4, 9) Barbara Nemitz, Handschriftliche Notizen zu ihrer Arbeit, 1997. – Zum Projekt „Künstlergarten Weimar“, vgl. die Zeitschrift „wachsen“, die von Barbara Nemitz im Verlag der Bauhaus Universität Weimar herausgegeben wird.
(8) Immanuel Kant, Analytik des Schönen, § 17 Vom Ideale der Schönheit, zit. nach Michael Hauskeller
(10, 11) Hauskeller, S. 403 und 404
(12) Vgl. Katalog „Von der Fläche in den Raum“, Neuer Berliner Kunstverein, Berlin 1985
(13) „Schönheit und Schmerz“ – Ein Landschaftszyklus, vgl. Katalog, Berlin 1985
Die Darstellung von Schönheit als universale Größe ist Thema meiner Arbeit. Landschaft empfinde ich als Inkarnation von Schönheit. Ich ergründe die Inhalte von Landschaft in Malerei und Inszenierungen. Meine Arbeit Künstlergarten ist ein weiteres Annähern und Einkreisen der Bedeutung von Landschaft.
Ich setze bei der Arbeitshaltung an. Erst wenn ich mit meinem Tun im Einklang bin, kann die Form folgen. Die Arbeit am Künstlergarten bedeutet das Experiment der Seinsweise als Erkenntnismethode. Sie führt mich in den Garten, weil ich dort anders sein kann.
Künstlerische Arbeitsmethoden sind Überhöhungen und Deformierungen der alltäglichen. Tradierte Sinnzusammenhänge werden neu definiert. Die Hinwendung zum Pflanzen bedeutet, in Lebensräumen zu denken und Gestalt in der Veränderung zu wollen. Es ist das Gegenteil von Stillstand. Interaktionen entwickeln sich. Formen entstehen und sind vergänglich.
Pflanzungen sind ein radikales Gegenüber. Der Wortsinn von radikal, radicalis, dem Eingewurzelten, überlagert sich hier mit meiner Empfindung. Das Radikale ist eine innige Form der Verbundenheit. In der Natur zu sein, in der Landschaft zu sein und sich mit ihr durch das Pflanzen zu verbinden, ist mein Arbeitsansatz.
Was ist Vegetation? Wo steht sie zwischen Mensch und Materie? Eine ambivalente Exotik geht von ihr aus. Sie ist gleichzeitig unbekannt und doch vertraut, denn sie existiert schon lange. Ebenso wie Landschaft, deren Teil sie ist. Vegetation lässt die Landschaft weich und anschmiegsam erscheinen. Ihr Anblick evoziert spürbare Empfindungen auf der Haut. Die Vegetation ist der Pelz des Körpers Landschaft.
Die Ausstrahlung der Sinnesreize ist vitales Zeichen der Vegetation. Üppiges Blühen und Wachsen weist auf Wohlbefinden hin. Die biblischen Vorstellungen des Paradieses zeigen dieses verheißungsvolle Glück. Vegetation steigert die Landschaft hin zum Angenehmen und Lustvollen.
Die Darstellung von Schönheit ist das klassische Thema der Künste. Meine Vorstellung von Schönheit ist umfassend. In dieser Totalität ist sie nicht darstellbar. Mich interessiert die zeitlose Schönheit in ihrer Offenheit. Ich erahne sie in der Natur. Die Erfahrung von Schönheit in dieser Universalität verlangt eine Haltung mit der Fähigkeit zur Hingabe und Liebe. Der Garten ist der Ort der Handlung.
Künstlerische Pflanzungen sind Spiegel sublimierter Empfindung von Schönheit.
Barbara Nemitz
„wachsen“ Arbeit am Künstlergarten Weimar, Heft 1, Weimar 1995
1989—90 schuf Barbara Nemitz eine Sinne, Emotionen und Erinnerungen ansprechende großformatige Malerei-Installation, der sie den naturromantisch klingenden Titel Im Waldesdom gab. Dargestellt ist die Impression einer Harzlandschaft, zu der eine alte Fotografie als Vorlagemotiv gedient hat.
Wer mit offenen äußeren und inneren Augen vor diesem Kunstwerk steht, wer bereit ist, sich meditativ ganz seinen optischen und psychischen Empfindungen hinzugeben, der wird erkennen, dass es Barbara Nemitz nicht um die Wiedergabe einer Landschaft geht, sondern um deren Sinn für den Menschen. Ihre Installation Im Waldesdom knüpft assoziativ an die Natursicht der deutschen Romantik an. Johann Wolfgang von Goethe verglich 1771 in seiner Schrift Von deutscher Baukunst die Architektur des gotischen Straßburger Münsters mit dem Walde, und Ludwig Tieck sah 1798, beschrieben im Roman Sternbalds Wanderungen gotische Kirchenschiffe als schattig-dämmrige Haine an.
Der »deutsche Wald« war seit der Romantik zu einem Ort nationaler Identitätsfindung geworden. Romantische Dichter besangen die »Waldeslust« und »Waldeinsamkeit«. Sie beschrieben aber auch den verzauberten bzw. verzaubernden Wald voller archaischer Naturmystik, belebt von Hexen, Feen und Kobolden. So ruft Barbara Nemitz' Harzlandschaft Im Waldesdom in Erinnerung, dass Heinrich Heine dieses wilde Gebirge mit seinem dunklen Tann in seiner Dichtung Die Harzreise beschrieb. Auch Goethe als geologisch interessierter Minister des Weimarer Hofes sowie Joseph von Eichendorff haben diese gebirgige Waldlandschaft aufgesucht und für ihre Eindrücke bewegte Worte gefunden. Die Tradition deutschen Waldempfindens lebt noch in der modernen Waldessehnsucht nach, obwohl bereits vor über einhundert Jahren, als die Popularität des »deutschen Waldes« begann, dieser weitgehend seine Unschuld verlor. Heute ist er partiell ein ökologisches Spiegelbild der menschlichen Natur.
1987 hat Barbara Nemitz über gemalte und transparente stürmische Nachtlandschaften, bewegt von Feuern hinterleuchtet und stimmungsvoll von Gesang begleitet, in der nächtlichen Parklandschaft des Berliner Tiergartens den emotionalen Bezug zur Romantik bzw. das heutige betäubte Naturempfinden angesprochen. Jedoch »ist die Wiedergeburt der Romantik nicht die Losung, schon garnicht die Lösung«, schrieb 1987 Bernhardt Buderath zu diesen Werken von Barbara Nemitz. »Die Künstlerin — genau besehen — zitiert auch gar nichts, sie lässt vielmehr Motive anklingen, die auf romantische zurückgeführt werden können. Sie bedient sich eines romantischen Vokabulars, aber verleibt es mit neuen Spielregeln einer neuen Sprache ein. Es ist die Sprache des Kompilierens, der Steigerung, der Übersteigerung — und als retardierendes Moment die Sprache der Ruhe, der Gelassenheit angesichts der Polarität der Welt.«
Ähnliche Empfindungen löst auch die atmosphärische Malerei Im Waldesdom aus. Säulenartig aufragende Baumstammreihen und das schräg von links oben durch die imaginären Baumwipfel einfallende Sonnenlicht vermitteln den Eindruck eines nebligen und kühlen vegetabilen Kirchenschiffs. (…) Die Wirkung der bühnenbildartig im Raum geschichteten, mit der Spritzpistole bemalten sechs seidenen Tüllbahnen ist von einem hohen Aspektreichtum begleitet, der sich aus der Bewegung vor dem Bilde und aus der wechselnden Intensität und Qualität des Lichts ergibt. Es ist eindrucksvoll, wie vielseitig sich die Bildstimmung unter Kunstlicht oder im Lichte der Tageszeiten und des variablen Wetters ändern kann. (…) Barbara Nemitz' luftige Malereien vermitteln einen atmosphärischen und stimmungsvollen Augenblick. Ihre lichtmalerischen Möglichkeiten gestatten Barbara Nemitz eine formale und aktuelle Neuinterpretation des »romantischen« Aufgreifens einer Naturimpression, die sich quasi einer visionären Erinnerung nähert.
So sind die feinen Tüllbahnen der Komposition Im Waldesdom eigentlich nur Hilfsmittel, um die atmosphärische Erscheinung desselben sichtbar zu machen. Sie sind kaum existent, sind Luft wie der Raum, in dem sie schweben, sind alles in allem ein Erscheinungsträger, ein Medium für das Sujet aus Licht und Farbe, das einer Luftspiegelung, einer Fata Morgana im realen Raum gleicht. Das Schweben der leichten Tüllbahnen mit dem »Bilde im Raum« unterstreicht die Schwerelosigkeit dieser »Luftmalerei«, in der die Masse nur als verschwommene Vorstellung assoziiert wird. (…)
Die luftig-zarte Bildmaterialisation sowie die kühle Farbigkeit aus Blau und Gelb, sensiblem Grün oder Violett fordern meditative Kontemplation heraus. Aber intensiver noch stimmt den Betrachter der Natureindruck des Bildes ein. Besonders dann, wenn er sich allein und frei davor fühlt, weil die Komposition von hoher Sensibilität ist und sich in der Intimität der Mensch eher zu seinen tiefen Empfindungen bekennt. Imaginativ kann der Interessierte in die Tiefen des Waldesdomes vordringen. Er kann die Farben intensivieren durchmischende Überschneidungen, kann sie heller oder deutlicher erleben. Er kann das Bild in seinem Sinne zur Wirkung kommen lassen und ist nicht nur staunender Betrachter vor demselben, sondern aktiver Mensch in ihm. Und er kann, wie es schon die »romantische Ironie« erlaubte, aus dieser Imaginationsreise wieder auftauchen und erblicken, dass das gemalte Bild und er sich in der plastischen Realität befinden.
Vor der malerischen Installation Im Waldesdom wird die Frage nach der räumlichen Ausdehnung der Farbe und die Unsicherheit, in welcher Entfernung und auf welcher Ebene sich der fixierte Gegenstand befindet, zur visuellen Entdeckungsreise. Denn die optische Schärfe der Bildtiefe lässt sich nicht so einfach herstellen oder bestimmen wie beim gewöhnlichen räumlichen Sehvorgang. Die Leichtigkeit der gesamten, im leichten Nebel liegenden, lichtdurcheilten Vision, die einer materialisierten Imagination gleicht, überträgt sich beim intensiven Hinsehen auch auf das Empfinden des Betrachters. Vieles ist sichtbar, aber nicht alles fassbar. Das Erwartungsvollste ist die Idee, solange sie im Geiste bleibt. So ist diese malerische Installation von Barbara Nemitz eigentlich nur der Hauch einer ideellen Ausformulierung.
Barbara Nemitz hat ganz im Sinne dieser Beobachtung den gegenständlichen Aspekt ihres Werkes nicht in den Vordergrund gestellt, sondern schon während des Malprozesses das Sujet erheblich als informelle, abstrakte Licht-Farbe-Struktur, durchwirkt vom Raum, angelegt. Unsere Assoziation, unsere Imagination, unser Standort, unser Bewusstsein und unsere Bewegung vor dem Motiv sowie der wesentliche Mitgestaltungsfaktor Licht lassen uns erkennen, was wir sehen wollen. Die Vielfalt der Erkenntnisse liegt ganz beim Individuum. Nichts ist von Barbara Nemitz ausformuliert, nichts ideologisch fixiert. Das Sehen wird beim Erleben ihrer Werke zur Entdeckungsreise des eigenen Empfindens.
Gerhard Kolberg
Katalog „Barbara Nemitz”, Kunstsammlungen zu Weimar, Landesmuseum (Neues Museum), Weimar 1995
Im Tiergarten, Alpenlandschaft mit See, Waldlichtung — Der Betrachter sieht sich konfrontiert mit scheinbar konventionellen Landschaftsausschnitten, die in der Wahl und Zusammenstellung des Materials jedoch eine ungewöhnliche Wirkung entfalten. Lichttragende helle Pastellfarben leuchten in der schwarzen Silhouette des Motivs auf braunem Jutegrund. Ebenfalls aus Jute gearbeitete, gepolsterte Rahmen verstärken den Eindruck, den die hellen Pastelle auf dem groben Bildträger ergeben. Für Barbara Nemitz ist Landschaft „ein seit langem gültiges Symbol für Schönheit.... Sehnsucht nach Schönheit heißt, dass man sich eine Vorstellung davon macht. Dieses Bild kann nicht einseitig sein. Es muss eine allgemeingültige Harmonie ausstrahlen. In der Gestalt der Landschaft zeigt sich eine Ordnung, die über das vom Menschen Geschaffene hinaus Teil des Unendlichen ist. Vielleicht möchte ich mich durch meine Arbeit diesem großen Rätsel näherbringen."
Für fast alle ihre Arbeiten hat Barbara Nemitz ein spezielles Verfahren auf textilen Bildträgern entwickelt. In den um 1980 entstandenen farbenfreudigen 'Malereien' auf Satin oder Seide, Harzlandschaft, Brechende Welle, Staubbachfall, ist, wie Christian Beutler es ausdrückt, Natur in ihrer "gesteigerten Erscheinung" dargestellt: Meer, gischtende Flut, Wald, Berg oder Wasserfall. Auch die mit Bedacht gewählten Riesenformate sollen das Erlebnis der Landschaft emotional aktivieren. Irgendwann wollte Barbara Nemitz nicht mehr ignorieren, dass das Siebdruckverfahren sehr umweltschädlich ist. Die Entscheidung, diese Technik aufzugeben, war schmerzhaft, führte aber zu neuen Formen des künstlerischen Ausdrucks.
Wie die Künstlerin ausdrücklich betont, geht es ihr in ihrer Arbeit nicht um einen Nachruf auf die schwindende Natur — Landschaftsmalerei heute ist gemeinhin anders, zeigt menschliche Spuren in der Natur, die deshalb wohl auch nicht ohne Grund von uns nicht mehr als Landschaft, sondern als Umwelt bezeichnet wird. Barbara Nemitz geht es vielmehr darum, das Bewusstsein für die Kraft spürbar werden zu lassen, die sich in Schönheit manifestiert. Schaukeln angesichts der Dia-Projektion von Landschaften bei leiser Musik (Schönheit und Schmerz, Rauminszenierung, 1985), Singen und Gehen in nächtlich-sommerlicher Landschaft (Nachtlandschaften, Aktion. 1987) beruhigt, ruft Erinnerungen wach und lässt zugleich auch Schmerz, Sehnsucht spürbar werden. Ihre Pastellkreidearbeiten auf Jute nennt Barbara Nemitz: "Malerei mit erloschenen Farben... Etwas, das erloschen ist, weist durch sein Nichtvorhandensein auf das hin, was war oder sein könnte". Das heliotrope Leuchten in Blau, Grün, Rosa und Gelb, das manchmal in der Natur zu beobachten ist, könnte ohne Brechung der malerischen Mittel nicht unbeschadet wiedergegeben werden. Barbara Nemitz gelingt dieses Wagnis mit Hilfe traditionell sich widersprechender Materialien. Was wir in ihren Bildern sehen, ist allerdings nicht das, was ist, sondern es ist das Leuchten in den Augen dessen, der sieht.
Ruth Irmgard Dalinghaus
Katalog „Nordbild/Noordbeeld“, Hg. Drents Museum Assen, NL und Landesmuseum Oldenburg, 1992
Das Thema Landschaft interessiert wieder. Landschaftsgärten wie Wilhelmshöhe oder Wörlitz erhalten Besucherzuwachs, die Literatur dazu schwillt an und wird auch gekauft; schließlich knipst jedermann im Urlaub Landschaftsbilder und hält die seinen so schön, daß er Freunde und Nachbarn zu Dia-Abenden verurteilt. Nur die Kunst scheint das Thema Landschaft aus ihrem Repertoire gestrichen zu haben.
Oder doch nicht? – Da baut in Berlin in aller Stille Barbara Nemitz einen Werkbestand auf, der uns die Landschaft als Gegenstand der Kunst in neuer Weise nahe bringt. Frau Nemitz` Landschaften sind inszenierte Erlebnisse, die sich aus alten Malereien oder Fotografien aus der Pionierzeit zusammensetzen und diese in räumlichen Installationen darbieten. Die Landschaft der Barbara Nemitz ist durch das reinigende Bad der abstrakten Malerei hindurchgegangen und erscheint nun neu als ein Konzept aus Formen und Bezügen.
Trotz ihres analytischen Aufbaus sind aber Barbara Nemitz‘ Landschaften integrierte, integrale Erscheinungen, in die der Betrachter eintauchen soll. Deshalb auch ihre Präsentation als Installation im Freien oder in großen Räumen, und deshalb – im Falle der bevorstehenden Kasseler Aktion – das Angebot an den Zuschauer, sich auf eine der an der Decke angebrachten Schaukeln zu setzen. Dabei hat das Schaukeln (mindestens) zwei Funktionen: Es verwischt den Standpunkt, oder den Augenpunkt, wie man in der Perspektivlehre sagt, und verändert damit die Tiefe des virtuellen Bildes; – hierbei helfen auch die mehrfachen Schichten von Schleiern, die Barbara Nemitz als Mal“grund“ oder als Projektionsschirm benützt. Und zum zweiten ist das von Kindern so geliebte Schaukelgefühl eine Liebkosung des Körpers und eine Entrückung der Stimmung hin zur Unbeschwertheit und Schwerelosigkeit.
1987 hat die Künstlerin bei ihrer Groß-Inszenierung “Nachtlandschaften“ im Berliner Tiergarten zusätzlich zur nächtlichen Parklandschaft gemalte Landschaften aufgestellt, die sie auf semitransparenten Folien angebracht hatte und von hinten durch Feuer erleuchtete. Während der eigentlichen Aktion zogen dann in dieser gedoppelten Landschaft hundert spazierende Sänger ihre je eigene, isolierte bahn und sangen ihre Lieder vor sich hin – alles nach einem genau programmierten „Zufallsplan“.
Barbara Nemitz benützt für ihre Landschaftsbilder aus zweiter Hand, Lorrain-Bäume etwa oder alte Fotos. Solche Bilder verarbeitet sie auch zu „richtigen“ Bildern, wobei sie die Farben verschiebt oder auf ein stilles Blaugrau reduziert oder mit durchsichtigen Schleiern das Bild dem Betrachter wegnimmt. So entsteht eine Steigerung der Bedeutung: Die Bilder sind uns altbekannt und doch neu.
In unserer Zeit der Landschaftszerstörung, der Sehnsucht nach echter, unberührter Natur gibt uns Barbara Nemitz auf der Ebene der Kunst neue Erlebnisse. Das Unerreichbare, die Versöhnung von Kultur und Landschaft, wird als spielerische und nachdenkliche Aktion reflektiert.
Lucius Burckhardt
„Kassel kulturell“, Kassel 1991
Zunächst verspricht schon der Titel Nachtlandschaften, promenades nocturnes Romantisches. In vielen Modi dieser Inszenierung von Mensch und Kunst in einer Parklandschaft wiederholt Barbara Nemitz romantische Motive und damit auch romantischen Sinn. Die rasenden Wolkenfetzen, die dramatisch gestaltete Vegetation, der Mensch in der Einstimmung auf die Nacht in der Natur, nicht zuletzt diese Nachtmystik als solche, die sich in der Nacht als Austragungsort der Kunst zeigt, und der Rückgriff auf das theatralisch-atomistische Element Feuer: all' diese Motive scheinen den Wanderer langmütig und kurzweilig zugleich in die Welt Caspar David Friedrichs oder Novalis' zurückzuwerfen. Einen Spaziergang lang der Tiergarten als Museum, Romantik live?
Die Künstlerin kennt keine Defizite in Sachen Romantik. Es geht ihr nichts ab; nicht die Abendröten und Mondenscheine, keine Naturandacht oder -mystik, kein Land, wo Milch und Honig fließen. Barbara Nemitz möchte nichts wieder holen um zu wiederholen. Die Wiedergeburt der Romantik ist nicht die Losung, schon gar nicht die Lösung. Die Künstlerin — genau besehen — zitiert auch gar nicht; sie lässt vielmehr Motive anklingen, die auf romantische zurückgeführt werden können. Sie bedient sich eines romantischen Vokabulars, aber verleibt es mit neuen Spielregeln einer neuen Sprache ein. Es ist die Sprache des Kompillierens, der Steigerung, der Übersteigerung — und als retardierendes Moment: die Sprache der Ruhe, der Gelassenheit angesichts der Polarität der Welt.
Worin bestehen diese Steigerungen? Barbara Nemitz greift das Motiv des Nächtigen auf, doch sie belässt es nicht dabei. Die Nacht taucht — malerisch betrachtet — die Natur ins Dunkel, sie entfärbt die farbig satte Landschaft. Die Künstlerin wiederum malt Natur, malt Landschaft schwarz. Eine doppelte Entfärbung: die Entfärbung der Natur durch den Wegfall des Lichtes und die Entfärbung der Natur durch die Malerei. Eine Steigerung des Nächtigen. Noch unterstützt durch die silhouettierende Wirkung des dahinter platzierten Feuers erscheint die gemalte Landschaft als Scherenschnitt, als vordergründig. Das ist ein romantisches Moment, aber aus dem Geiste des Rokoko. Denn die Künstlichkeit des Kunstwerkes muss gar nicht erst entlarvt werden; es gibt seine Künstlichkeit von vorneherein preis. Sie wird durch das Wehen der leichten Leinwand und das Flackern des Feuers so intensiviert, dass die eigentlich lebendige Natur dahinter sanft und erhaben zurücktritt. Diese gewollte Dramatisierung des Kunstwerkes gaukelt nicht eine Pseudoexistenz vor, sondern macht das Kunstwerk als Scheinhaftes plausibel. Somit zergliedert diese Duplizierung der nächtlichen Landschaft Natur und Kunst in das Verhältnis von Epiphanie und Diaphanie.
Die Romantik wirkt darin nach, dass aus dieser Zergliederung keine Antinomie wird. Wie im englischen Landschaftsgarten gehen Natur und Kunst eine Synthese ein, die beiden ihre Idiome belässt.
Neben den Schemen der Landschaft, dem Schwarz als Farbe der Nacht, wird der bildliche Raum vom durchscheinenden Feuer gefüllt. Damit nimmt die Leinwand auch warme Farben an. Sie leuchtet, ja glüht auf und tritt somit in ein anderes Spannungsverhältnis ein, das von der zunehmenden Kühle der Nacht und der wachsenden Wärme des Feuers. Das Schwarz der Farbe und der nächtlichen Natur wird als Kontrastmittel eingesetzt, um das sich auf die Leinwand projizierende Feuer als Anziehungspunkt hervorzuheben. Das Feuer tritt also ambivalent in Erscheinung als unruhig züngelndes Requisit, als Schein-werfer, als theatralisches Stimulans und andererseits als Wärmequell, als Urpunkt menschlicher Anziehung und Versammlung. Selbst diese Doppelzüngigkeit greift auf Romantisches zurück; man denke nur an Hölderlins Empedokles, der im Begehren, dem Ursprung des Lebens am nächsten zu sein, in des Aetna Flammen stürzt.
Durch den gezielten Einsatz des Feuers in einer Parklandschaft gelingt Barbara Nemitz in diesem Element auch eine stillschweigende Analogie zu einem Prinzip des englischen Landschaftsgartens. Das Feuer ist eine von Menschenhand gesteuerte, zwar kontrollierte, aber doch chaotisch wuchernde Existenz; auch die Landschaftsarchitekten im England des 18. Jahrhunderts wollten die ungezügelte Kraft der Natur, die vom Menschen lediglich sozusagen durch kosmetische Maßnahmen mitgestaltet wird. Hier wird die Endlichkeit des Menschen gegenüber den Elementen evoziert, die er beherrscht, solange er sie in den Grenzen menschliehen Maßes hält.
Auch viele Texte der unisono gesungenen Lieder greifen diesen Versuch des Menschen, Maß zu halten angesichts der Unendlichkeit des Universums, auf.
Die Nachtstimmung, die sich einerseits um die Feuerplätze mit ihren diaphanischen Bildern konzentriert, wird andererseits durch die wandernden und ruhenden Sänger wiederum verbreitet. Auch die Zuschauer, die ja Wanderer in dieser Welt sind, zerstreuen wieder die gebündelten Eindrücke und tragen sie in individuellen Erlebnissen durch die Parklandschaft. Diese erbauliche Inszenierung, welche dem Zuschauer das Zuschauen zugunsten eines aktiven Erlebensdranges nimmt, weist zuerst auf die Schäfer- und Hirtenspiele der galanten Zeit zurück. Der Mensch als homo ludens, der sich an der Natur und den Inszenierungen des Menschen darin erbaut. Aber die Atmosphäre der Nacht lässt auch diese Assoziation, die in eine aufklärerische, die Lichtmetaphysik propagierende Zeit führte, abtropfen in das Klima einer elegischen Romantik. Zentraler Ausgangspunkt ist die fast divergierende Spannung, welche die Künstlerin in der Art des musikalischen Vortrages auslegt. Das Unisono der Sänger weist auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen, auf Eintracht und gleiche Gesinnung; doch finden sich die Akteure nicht zu einer Gruppe zusammen. Gerade in ihrer Einstimmigkeit, die jeder sozusagen mit sich herumträgt, wird auch ihre Vereinzelung offenbar. Erneut drängt sich der Rückblick auf die Romantik auf, zumal die gewünschte Nachtstimmung mit ihrem beruhigenden Unisono meditative Züge erhält. Es sind die mit ein oder zwei Figuren in Rückenansicht besetzten Landschaftsbilder Caspar David Friedrichs, die vor einem auftauchen. Doch werden seine Figuren einer anderen Einsamkeit gewahr als die Sänger der Barbara Nemitz. Friedrichs Figuren sind bedrohte; meist sehen sie die Landschaft vor sich als Durchgangsland zu einem fernen Jenseits, das für sie unerreichbar ist; selbst der Grund, worauf sie zu stehen scheinen, wird oft zu einem haltlosen Abgrund. Der Mensch in inkommoden Verhältnissen, eine Welt ohne Bestand, die Nacht als drohendes Nichts, einstweilen noch gefüllt von den Nachtmahren Füsslis, den vernunftgeborenen Ungeheuern Goyas, aber schon starrend in den Nihilismus von Büchners Woyzeck.
Gleiches lässt sich über die nicht abgemalten, sondern lebenden Gestalten der Barbara Nemitz nicht sagen. Die Einsamkeit ihrer Sänger ist kein seelisches Befinden, sondern als erkenntnistheoretische Formel gebraucht: das Ich als, in und gegenüber der Natur. Hier findet die für die Bedeutung des Ganzen entscheidende Veränderung gegenüber der Romantik statt. Die Einsamkeit bekommt eine neue Qualität; sie führt weg von der Selbstsetzung des Ichs, wie es Novalis in seinen philosophischen Schriften formuliert, hin zu einem In-der-Welt-sein des Ichs, um mit Heidegger und Gerd Brand zu sprechen. Der singende Mensch ist zwar einsam, auf sich gestellt in seinem Empfinden und Erleben, aber er hat die Landschaft real vor oder unter sich, Der unterminierende Nihilismus der Romantik wird hier in einen Positivismus gewandelt. Das stimmungsvolle Ergehen und Erleben des Menschen findet seine Evidenz in der Natur. Das Zusammenspiel der Elemente, die Interferenz von Kunst und Natur ist die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis geworden. Diese Kantsche Phrase, die auf die Vernunftkritik zielt, füllt die Künstlerin mit Leben. Sie setzt der sonnenbesessenen Staatsvision aus Thomas Manns Der Zauberberg ihre heterogene, aber unisono eingestimmte Nachtgesellschaft entgegen. Die Wiesen und Rasenflächen, erfüllt von dem ruhigen Gesang, erinnern an elysische Felder, aber ohne jene romantische Jenseitsgestik.
Denn Barbara Nemitz trägt zwar die Vision jener Nachtinszenierungen vor sich her, doch will sie nicht visionär im Sinne eines transzendenten Impetus sein. Ihr Ziel ist es, ein ganzheitliches Erlebnis von Mensch, Natur und Welt zu vermitteln. Gleichzeitig setzt sie den einzelnen in diese und dieser Ganzheit als Repoussoir gegenüber. Wie Friedrichs Mönch am Meer, welcher der Dimensionslosigkeit des Alls gegenübersteht, nur nicht mit dessen düsterem Fatalismus macht sie den Menschen seine Endlichkeit begreifen. Das Ganze ist für den Menschen immer nur erahnbar, das Ding-an-sich weist über jede individuelle Erfahrung hinaus. Dies fasste schon Matthias Claudius: (Der Mond) Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön. / So sind wohl manche Sachen, / Die wir getrost belachen, / Weil unsere Augen sie nicht sehn. Als Ding-an-sich aber begreift Barbara Nemitz nichts Gegenständliches, sondern das Nachterlebnis des Menschen und das Erlebnis des Menschen in der Nacht selbst. Sie. heilt damit vorübergehend die Wunden, welche die Romantik in die Welt gerissen hat. Doch liegt darin keine Heilsbotschaft. Statt durch die Nacht in der Natur die Nacht der Natur heraufzubeschwören, versöhnt sie eine Weile lang die Menschen mit sich und der Welt. Gesang und Wandeln, diese Choreographie des Menschen in der Parklandschaft wird zur Antiphon eines künftigen Naturverhältnisses. Der nächste Schritt wäre die Geburt einer neuen Utopie.
Bernhard Buderath
Katalog „NACHTLANDSCHAFTEN - promenades nocturnes“, Berliner Festspiele, Berlin 1987
(…) Als ich die Fotografien nach den Tüchern der Barbara Nemitz betrachtete, fiel es schwer, mir die immense Größe dieser Bilder zu gegenwärtigen.
Jede Bildgröße, die eine bestimmte Beziehung zum menschlichen Körper übersteigt, wird leicht als übermenschlich und darum als anmaßend betrachtet, wenn ihr nicht zur Entschuldigung dient, daß Maschinen der Vergrößerung über Gebühr gedient hätten.
Barbara Nemitz malt ihre großen Tücher, sie malt sie aber im Siebdruck. D.h.: sie stellt nach der Anregung durch fotografische Vorlagen Kartonzeichnungen in den Größen der Originale her, sektioniert sie nach der Größe der Siebe, fotografiert die Teile, stellt Filme her, nach ihren Siebdruck-Schablonen und — nein, druckt nicht mit ihrer Hilfe, indem sie Farbschicht nach Farbschicht und Schablone nach Schablone wechselt, sondern gießt, träufelt, schabt Farbe in die Leermuster der Zelluloid-Formen so, daß eine hybride Form von Malereidruck oder Druckmalerei (zuweilen mit Passerfehlern, die so etwas wie Polarisationen erzeugen können) entsteht.
Der Herstellungsprozeß setzt die Wahrnehmung dieser großen Bilder in einen merkwürdigen Schwebezustand, weil sie ebenso drucktechnisch hergestellte Bildtapeten wie bemalte Leinwände sind. Und weil sie einerseits die Merkmale der Detailauflösung von extremen fotografischen Vergrößerungen zeigen, andererseits ihre Monumentalität aus den gemalten Formen ihrer Oberfläche beziehen.
Die Tücher hängen in großen Sälen. Das Licht fällt nicht auf sie, sondern durch sie hindurch. Sie leuchten. Sie sollen den Augen ein Fest bieten und „die Seelen der Betrachter streicheln" (Nemitz). Sie schaffen Vertrauen, weil sie die konventionelle Aura des Kunstwerkes ergänzen durch die von Industrieprodukten, die gesellschaftliche Trivialmythen verbildlichen.
Am Ende machen sie deutlich, daß es notwendig ist, die Trivialmythen beim Wort oder besser beim Bild zu nehmen. Warum sollte es nicht möglich sein, schlichtweg schöne, berauschende Bilder von Bergen und Wasserfällen zu malen?
Ich lernte das kleine oeuvre der Barbara Nemitz kennen, als ich mich mit Tendenzen in der zeitgenössischen Malerei zu beschäftigen begann, die nicht nur auf den zur Abstraktion neigenden Expressionismus der 50iger Jahre, sondern auf den der 10er Jahre, Fauvismus und Blauer Reiter zurückverweisen. In diesem Zusammenhang interessierte es mich als malerisches Ereignis voll unverschämter Farbenfreudigkeit und lustvoller Theatralität.
Wolfgang Becker
Katalog „Barbara Nemitz – Malereien“, Neue Galerie-Sammlung Ludwig, Wilhelm-Lehmbruck-Museum Duisburg, 1979
„Eben wie ein großer Dichter, weiß die Natur auch mit den wenigsten Mitteln die größten Effekte hervorzubringen. Da sind nur eine Sonne, Bäume, Blumen, Wasser und Liebe.
Fehlt, freilich letztere im Herzen des Beschauers, so mag das Ganze wohl einen schlechten Anblick gewähren, und die Sonne hat dann bloß so und so viel Meilen im Durchmesser, und die Bäume sind gut zum Einheizen, und die Blumen werden nach den Staubfäden klassifiziert, und das Wasser ist nass.“
Heinrich Heine, Die Harzreise, 1824, Vorwort im Katalog „Barbara Nemitz / Malereien“, Neue Galerie-Sammlung Ludwig, Aachen und Wilhelm-Lehmbruck-Museum Duisburg, 1979/80
Mit der Pastellfarbe Rosa verbinden sich Konnotationen wie: Sensibilität, Zartes, Jugendliches, Irreales, Exzentrisches, Süsses, Verletzliches und Lustvolles. Die Farbe umfasst die “high and low culture”. Sie wird manchmal als unangenehm, gar peinlich empfunden und andererseits genossen, oder sie verbindet sich ganz schlicht mit der Vorstellung von Schönheit. Rosa, die Farbe mit den emotionalen, widersprüchlichen Faktoren, ist bisher kaum ernsthaft wahrgenommen worden. Im Gegensatz dazu gibt es in den den Bildenden Künste bis hin in die aktuellsten Produktionen immer wieder kräftige, markante Werke, die die subtile Farbe brillant in Szene setzen.
Attraktiv für die Arbeit mit Rosa ist die ihr innewohnende Ambivalenz. Ihrer Hintergründigkeit näher zu kommen, und sie unmittelbar differenziert zu zeigen, ist der Antrieb für die künstlerische Auseinandersetzung damit. Mit Rosa wird Position bezogen.
"Nicht der Verstand, sondern das Gefühl bestimmt unser Verhalten", sagte Sigmund Freud und auch neuste Untersuchungen der Gehirnforschung bestätigen seine Behauptung. (1) Mehr als bei allen anderen Farben wird Rosa mit Emotionen verbunden. Sie scheint eine Farbe zu sein, die sich mit solch intensiver Ausstrahlung an uns richtet, daß sie eine regelrechte Herausforderung an unsere Empfindungen darstellt. Demnach wäre Rosa, eine derjenigen Farben, die deutlichen Einfluß auf unser Verhalten ausübt. Gefühle und Empfindungen sind äußerst individuell, komplex und schwer zu kommunizieren.
Künstler gehören zu den Spezialisten, die mit dem Instrumentarium "Empfindungen" professionell umgehen. Künstlerische Werke sind umfassend, das heißt sie sind neben ihrer rationalen Ebene, vor allem sinnlich wahrnehmbar.
Das Vermögen Farbe empfinden zu können und zu deuten, ergibt sich aus dem Zusammenwirken der sinnesphysiologischen Vorgänge des Sehens und aus erlernten Verknüpfungen, die der betreffende Mensch mit vorherigen Seherfahrungen erworben hat. Oft überlagern sich verschiedene Bedeutungen und bilden einen beziehungsreichen Zusammenhang. Rosa ist eine Farbe, die sich vielfältiger als andere an unsere Sinne richtet: an die Augen: sie vereinigt das Weiß, d. h. Helligkeit und Licht mit der dominanten Farbe Rot, die Wärme und Aktivität ausstrahlt. an den Tastsinn: die menschliche Haut, das Organ, das für das körperlich Fühlen überhaupt zuständig ist, die Empfindung der Nähe den Geschmack: das Süße, Fruchtige den Geruch: das Blütenhafte.
Die gesellschaftliche Bewertung der Farbe Rosa zeigt Extreme. Man scheint genau zu wissen, wo Rosa sein darf und wo nicht. Auffallend ist, daß sich bei der Akzeptanz von Rosa die Geschlechter unterscheiden. Rosa stößt bei den Frauen auf deutlicheres Interesse. Dagegen gibt es nur wenige Männer, die sich überhaupt mit Rosa beschäftigen wollen. Die Mehrzahl von ihnen lehnt Rosa generell ab. (2) Diese Erfahrungen haben wir auch in unseren beiden Arbeitsgruppen in Tokio und in Weimar gemacht. An beiden Orten war der überwiegende Teil der Arbeitsgruppe weiblichen Geschlechts. Was führte sie dazu sich mit der Farbe beschäftigen zu wollen? Die Möglichkeit endlich identitätskonform zu arbeiten ? Es war jedoch eher die distanzierte Neugier, etwas über ein Farbspektrum herauszubekommen, das gemeinhin im Abseits steht, oder sogar tabuisiert wird. Einige der jungen Künstlerinnen sprachen sogar von einer Belastung der eigenen (weiblichen) Identität durch die Konnotationen der Farbe.
Umwerten, aufwerten oder neu bewerten ist ein grundlegendes Arbeitsprinzip in der Kunst. Wertloses Material wird durch seine Verwendung im Kunstkontext wertvoll, da andere Aspekte, als die konventionellen entdeckt und geschätzt werden. Um Rosa könnte es dabei auch gehen. Das was ihm innewohnt wartet nur darauf, unter anderen Bedingungen wahrgenommen zu werden. Was aber steckt in Rosa und was macht sein Wesen aus? Farbe hat kein sprachliches Pendant. Insofern sind es die nachfolgenden Bilder und Kontexte, die die Eigentümlichkeiten von Rosa einkreisen.
Rosavision/ High & Low
In der Natur kommt Rosa selten vor. Es gehört nicht zu den Spektralfarben des Regenbogens. Trotzdem gibt es Lichterscheinungen, die diesen Farbbereich wiedergeben. Das Abendrot tendiert zum einem gelblichen Rosa und auch das Licht am frühen Morgen erscheint in Rosatönen. Bei der Morgenröte verschwindet die Dunkelheit der Nacht. Kühle wandelt sich in Frische. Das dunkle Blau verblaßt. Rosa Farbtöne erscheinen. In ihnen kündigen sich die Strahlen der Sonne, Licht und Wärme an. Zu dieser Zeit verliert der Himmel seine unendliche Ferne. Er scheint sich durch die leicht rötliche Färbung der Erde anzunähern. Das sind Momente der Verheißung!
Die oft zitierten "Rosa Wolken" reflektieren es und auch der Schnee kann rosafarben leuchten. Rosafarbenes Licht in den Aggregatzuständen des Wassers ist immer wieder dargestellt worden. Bekannt sind Phänomene wie das "Alpenglühen", dann ist Rosa eine Farbe, die die Landschaft unwirklich schimmern und aufleuchten läßt. –
Im Gegensatz zum hellen Tageslicht ist gerade der Moment des anschwellenden oder schwindenden Lichtes und der flüchtigen Erscheinung wichtig. In diesen kurzen Zeitspannen gewinnt Rosa eine existentielle Bedeutung. In seiner stetig und unweigerlich voranschreitenden Veränderung ist es eine sanfte Markierung vom Anfang oder Ende des Tages. Die kurzen Zeitspannen des sich rosa verfärbenden Himmels, bedeuten darüberhinaus: Vergänglichkeit. Rosa verweist auf das Irdische, das Sterbliche. Rosa ist eine Farbe von kurzer Dauer und geht schnell vorüber. Für die Empfindung der Farbe Rosa ist dies ein wichtiger Faktor. Die Verbindung von Rosa mit Vergänglichkeit ist ein Bezug der Farbe zu den Themen der Romantik. In unseren Städten können wir die Lichterscheinungen weniger stark erleben. Trotzdem ist möglicherweise etwas von diesem Bewußtsein noch in uns vorhanden.
Jedes Glück, jeder Genuß ist nur dann einer, wenn er nicht von Dauer ist. Rosa ist eine Farbe von kurzer Dauer. Dieser Bezug wird in der Natur wiederum deutlich wenn Rosa als Farbe von Blüten auftritt. Die Farbträger, die Blütenblätter, sind zart und empfindlich, ganz im Gegensatz zu den grünen Blättern. Ihre Lebensdauer jedoch, ist wesentlich kürzer.
In vielen Sprachen bezieht sich der Farbname auf die häufigsten Blüten dieser Farbe: die Rose, oder die Nelke. Neben anderen Kontexten verbindet sich Rosa in Japan mit der Kirschblüte “Sakura”. Das Naturereignis ist gleichzeitig ein hochgeschätztes Kulturereignis. Alljährlich widmet man sich ausgiebig der Betrachtung der Wolken rosa blühender Bäume und den nach wenigen Tagen “herabschneienden” Blütenblättern. Sie sind das Symbol für den Tod junger Krieger, der Samurai, die in der Blüte des Lebens im Krieg fallen. Beim Anblick scheinen die sich durchdringenden Empfindungen von Schönheit und Schmerz eine tragende Rolle zu spielen. Das Wissen um die Endlichkeit steigert die ästhetische Ausstrahlung von Rosa. Ein weiterer interessanter Aspekt liegt darin, dass die zarte Farbe hier einer männlichen Thematik zugeordnet wird.
Rosa vermittelt schon eine Ahnung der milderen Temperaturen und ist eine Farbe des Frühlings und des Aufblühens. Das "Erröten" der Blüten strahlt eine zarte erotische Wirkung aus. Zusammen mit dem ausströmenden Duft, betören sie nicht nur die Insekten, die dadurch angelockt werden, sondern auch den menschlichen Geruchssinn. Der Duft von Rosen ist einer der ältesten Parfumgrundstoffe. Weitere rosafarbene Blüten, deren Schönheit hochgeschätzt und die teilweise verehrt werden sind: die Lotusblüte in Indien, die Päonie in China und im Mittelmeerraum die Nelke.
In der Welt des Wassers und der Meere kommt Rosa in bizarren ungewöhnlichen Naturformen vor: Korallen, Muscheln, Schneckenhäuser. Tiefseeschnecken und ihre Gelege besitzen blütenhafte Formen. Man kann sich fast ihre weichen Bewegungen im Wasser vorstellen. Mir scheinen sie die Sanftheit der Farbe weiterzuführen. Rosafarbene Perlen gibt es übrigends sehr selten. An Land kennen wir vor allem ein Tier, das eine rosafarbene Haut haben kann. Es ist das Hausschwein. In makellos sauberem Rosa ist es vom bloßen Fleischliefereranten zum Glücksbringer geworden, ganz im Gegensatz zu seinen wild lebenden, farblich unscheinbaren Verwandten. Ein anderes Tier, das ausschließlich mit Rosa in Verbindung gebracht wird, ist der Flamingo. Ohne die Färbung seines Gefieders – die auf Grund der Nahrung von bestimmten Krebsen entsteht - wäre er sicher ein Vogel unter vielen, so aber ist er zum ultimativen Symbol für südliche Exotik geworden. Pink Flamingos sind eine Art Paradiesvogel mit dem sich die Sehnsucht nach einer Traumwelt verbinden läßt. Sie vereinen mehrere der Farbe Rosa zugeschriebene Eigenschaften in sich: das wenig Erdverbundene, abgehobene leichte, und körperlich Fühlbare, durch ihr weiches Gefieder. Wenn sie dann in Schwärmen fliegen, könnte man meinen eine vorbeiziehende rosa "Federwolke" zu sehen. Rosa ist eine warme, weiche und leichte Farbe. Durch Federn materialisiert, spürt man die anschmiegsame Anmutung fast körperlich. Diese leichte, erotische Ausstrahlung hatte wohl der britische Modeschöpfer John Galliano im Sinn als er rosa Federn unter den Röcken seiner Modelle anbrachte.
Sensibilität ist eine der Hauptempfindungen, die wir mit Rosa verbinden. Sie hat einen Ursprung im Bewußtsein, das Rosa auch die Farbe der Haut sein kann und vor allem der Körperhöhlen. Die Haut, unser flächenmäßig größtes Organ der Wahrnehmung, ertastet Eigenarten von Substanzen, Zuständen und Befindlichkeiten. Wir orientieren uns damit. Interessant ist hier auch die umgekehrte Richtung der Wahrnehmung. Durch die Fähigkeit etwas sinnlich wahrzunehmen, spüren wir uns selbst und gewinnen Selbstvertrauen. Unmittelbar verweist die Farbe der Haut auf den inneren Zustand in dem wir uns befinden. Der Zustand "nackt" zu sein ist mit Schutzlosigkeit gleichbedeutend. Der Mensch wird nackt geboren. Die dünne, rosafarbene Haut ist außerordentlich verletzbar. In Situationen wo großer Mut öffentlich gezeigt wird, kann man den Mut durch Nacktsein steigern, ungeschützt, unbewaffnet, demonstrativ die verletzbare Seite zu zeigen. Mit diesem Bezug spielt die offensiv zur Schau gestellte Nacktheit. Stärke, Eros und Macht vereinigen viele allegorische Figuren der Freiheit auf sich.
Ein Eldorado für die malerischen Möglichkeiten von Rosa, ist die Darstellung der nackten Figur. Hier kann der Fleischton, das "Inkarnat" inszeniert werden. Dabei zeigt sich, daß Rosa in außerordentlich nuancenreichen Mischtönen erscheinen kann. Dadurch, das es als Pastellfarbe bereits sehr viel Weiß enthält, bietet es eine ideale Basis für weitere feinste Abmischungen. Es entsteht ein ausgefeiltes Farbspektrum, mit dem sich feinste Modulationen ausdrücken lassen, die der Betrachter auch erkennen kann.
Über das körperliche Gefühl hinaus zeigt die Haut auch das seelische Befinden. Innere Zustände werden nach Außen gekehrt. Wenn einem vor Entsetzen das Blut in den Adern stockt, wird man blass. Beim Gegenteil, wenn man errötet, ist Aktivität zu spüren. Das kann extrem bei Wut und Zorn sein, oder aber bei Verlegenheit und im Zustand des Verliebtseins. Das innerliche Gefühl durch das aufwallende Blut, wirkt sich auch auf die Sicht nach außen aus. Die Umgebung erscheint rosiger. Das wohlige, verliebte Gefühl, ... es verändert die Sicht.
Rosa ist eine Vorstufe zu Rot, das die große erfüllte Liebe bedeutet. Die Farbe kann sich dahin entwickeln, Rosa ist spannend, ist das Sehnsüchtige, das Ahnungsvolle noch Unerfüllte, das Verheißende, ist der geistig-seelische Bereich der Liebe. Rosa ist Erotik. In diesem Zusammenhang ist Rosa weltweit verbreitet. Weitere Genüsse bereitet Rosa durch Geschmack und Geruch. Es schmeckt süß, und riecht blumig, fruchtig süß, so wie keine andere Farbe sonst. Süßes ist allgemein beliebt und ist eine primäre Geschmacksempfindung auf der Zungenspitze. Süßigkeiten und Süßspeisen dienen dem Menschen weniger als Nahrung. Sie sind etwas Besonderes, und haben vor allem einen Zweck: Lusterfüllung. Die Konsistenzen der Kuchen und Nachtische sind häufig weich und cremig. Sie zergehen auf der Zunge, oder werden gelutscht, was die orale Befriedigung noch verstärkt. Möglicherweise tragen diese lustvollen Empfindungen auch zur Beliebtheit der Farbe bei Kindern bei. Das Süße wird in Verbindung zu Kindern auch das Niedliche. Und die niedlichen Kleinen werden die Süßen! Kunststoffspielzeuge und Puppen für kleine Mädchen zeigen einen gnadenlosen Einsatz von Rosa. Rosa überlagert sich hier bei Mädchen auch schon mit dem Rosa als Farbe des Weiblichen.
Die Verbindung von Rosa mit dem Weiblichen ist historisch unterschiedlich stark gewesen. Im Rokoko, einer Zeit der Pastellfarbenmode, trugen auch Jungen und Männer rosa Anzüge. Sinnliches Empfinden bis hin zur Verspieltheit zeigte sich hier bei der höfischen Gesellschaft. In der heutigen Zeit und in der jüngeren Vergangenheit wird Rosa vor allem von Mädchen und Frauen getragen. Allen emanzipativen Anstrengungen widersprechend, findet es sich in der Männer- und Jungenbekleidung immer noch selten. Einzelne Vorstöße werden in dieser Hinsicht werden hin und wieder gemacht. Zur Zeit ist es modern rosafarbene Oberhemden zu tragen, mit denen der Träger etwas weicher und zugänglicher erscheint. Bei der Bekleidung von Frauen wird Rosa meist mit Stoffen von besonderer Empfindlichkeit verwendet. Sie unterstützen den weichen und feinen Charakter der Farbe. Farbe und Stoff verweisen attributiv auf Eigenschaften, die die Mädchen und Frauen verkörpern sollen wie: gefühlvoll, sanft, freundlich, erotisch. Es gilt als erwiesen, daß sich das Äußere auch auf das innere Verhalten auswirkt. Anziehen ist auch eine Form des Anerziehens. Andererseits wählen Frauen auch strategisch subversiv diese Kleiderfarbe. So hat sich Rosa zu Zeiten der Frauenbewegung zu einer selbstbewussten Farbe entwickelt. Rosa ist allerdings bereits seit langem mit den Homosexuellen verbunden. Es wurde zu der Farbe, die demonstrativ die Andersartigkeit zeigt und bewusst gewählt, um sich vom üblichen Männerbild abzusetzen.
Im Design und in der Architektur tritt Rosa selten auf. Wenn ganze Bauwerke eine rosa Fassade haben, so bedeutet dies in den meisten Fällen eine Zeichensetzung für das Außergewöhnliche. Frank Gehry stilisiertete sein privates, schlichtes Einfamilienhaus, das er als noch wenig bekannter Architekt in Santa Monica /Kalifornien kaufte und mit fragmentarischen Architekturdetails umgab, zusätzlich durch die rosa Farbgebung in eine spielerische Architektur. Schon vor ihm hatte Louis Barragán weiter südlich in Mexiko 1963-1967 mit dem San Cristobal Stable and Egerstrom House, sowie mit Los Clubes Rosa als strahlende, selbstbewußte Farbe auf den sachlichen, großen Flächen der Architektur ausgeführt. Eine Vielzahl von rosafarbenen Häusern gibt es in Florida und Kalifornien. Nicht von ungefähr sind in Gegenden dieser Art eine Vielzahl von Beispielen zu finden. Sie demonstrieren die Erwartungen, die man an das Leben dort hat. Den Bewohnern geht es gut. Sie führen ein angenehmes, ja traumhaftes Leben. Rosa gibt Architekturen etwas mühelos Schwebendes. Der Körper eines Baues verliert die Schwere. Ob Rosa als "Farbe die alles leichter werden läßt" dem Besitzer und Herausgeber der Financial Times, Douglas MacRae bekannt war habe ich nicht herausbekommen können. 1893 entschloss er sich dazu, die Zeitung nicht mehr auf weißem, sondern auf rosa Papier zu drucken. Aus London wurde mir lediglich mitgeteilt, es sei zur besseren Unterscheidung gegen die konkurrierenden Wirtschaftszeitungen getan worden. Der Farbwechsel hat sich jedenfalls gelohnt. Von da an verkaufte sich die Financial Times besser als ihre Mitbewerber. Auf rosafarbenen Untergrund liest sich manches angenehmer.
Daß Rosa das Bild schönt, diese Erscheinung kann man ganz einfach erreichen. Man setzt die vielzitierte "Rosa Brille" auf und schon zeigt sich alles in einem angenehmeren Licht. Es ist die Filterwirkung, die Störendes nicht mehr erkennbar macht. Das Bild, das sich nun dem Betrachter bietet, ist geschönt. Dazu las ich aus China die erstaunliche Meldung, dass selbst Hühner die Welt lieber rosarot sehen. Nachdem man bei einem Experiment 180 Hühnern rosa Kontaktlinsen gab, wurden sie ruhiger und ihre Eierproduktion stieg. "Think Pink" ist eine Parole, die störende Zweifel und Grübeleien aus den Gedanken verbannen soll. Mit der Realität verbundene Zweifel werden beiseite gelassen, damit sie Ideen nicht schon im Vorfeld ersticken. Sie stammt aus dem Amerika der 50er Jahre und ist im Zusammenhang mit der Kreativitätsforschung zu sehen. Mit Rosa wollte man die Phantasie beflügeln. Populär gezeigt wurde das Motto "Think Pink" im Musicalfilm "Funny Face" indem die Redakteurinnen eines Frauenmagazins von da an ideenreich und mit Elan in ihrem umdekorierten - nun rosafarbenen Büros – neue, interessante Modereportagen produzierten. Auf diese Filmsequenz hat sich auch Derek Jarman in seinem Film "The Garden" bezogen, als er unter anderen Vorzeichen – Rosa als Farbe der Homosexuellen - eine vor rosa nur so überbordende "Homage" eingebaut hat.
Rosa ist die Farbe der Fantastik. Grenzen werden überschritten. Rosafarbene Tiere entfernen sich vom Animalischen. War nicht schon der Flamingo mehr Kunstfigur als Tier? Erst recht ist es der "Pink Panther". Typischerweise ist es eine Trickfilmfigur. Der Trickfilm ist die Filmgattung, in der alles Unmögliche möglich wird. Rosa steht dafür, nicht mit der mühseligen Realität und den üblichen Normen verbunden zu sein.
Sich vom Alltäglichen zu distanzieren, ist eine Rolle in der Rosa immer wieder auftritt. Es ist die Extravaganz, das Besondere, das hier gezeigt wird. Am Hofe Ludwig XV. war es seine Mätresse, Madame de Pompadour, die Rosa als ihre Lieblingsfarbe kultivierte. Auch in jüngerer Zeit zeigen sich weibliche Stars gerne in einer wilden Mischung aus freizügigen und unschuldig wirkenden Roben. In den 80igern machte die pinkfarbene Corsage, die Jean Paul Gaulthier Madonna auf den Leib geschneidert hatte den Anfang. Dann folgten Peaches, Pink und andere in rosafarbenen Outfits.
Aber es gibt auch die Klassiker. - Eine kleine Gruppe besonders wohlhabender Damen in hohem Alter kleidet sich konsequent und hemmungslos von Kopf bis Fuß in rosa. Manche gestalten oft auch ihre Umgebung farblich passend dazu aus. Sie alle leisten sich Rosa, das sie ja eigentlich, da es der Jugend zugeschrieben wird, nicht tragen "dürften" und zeigen damit Entschiedenheit, Unabhängigkeit und Macht! Eine besonders entschiedene Frau, die jahrzehntelang an der Spitze ihres eigenen Geschäftsimperiums stand, war Elisabeth Arden, die Besitzerin und Gründerin des gleichnamigen Kosmetikkonzerns. Auch sie liebte es üppig von Rosa umgeben zu sein und wurde sogar bei ihrer Beerdigung 1966 in einem rosafarbenen Kleid des Modeschöpfers Schiaparelli beerdigt.
Eine besondere Eigenschaft von Rosa, die ich hervorheben möchte, ist die Friedfertigkeit, die jedoch nicht mit Machtlosigkeit zu verwechseln ist. In einer Kunstaktion malte der tschechische Künstler David Cerny 1991 einen sowjetischen Panzer auf den Sockel eines Denkmals rosafarben an. Der Panzer war ein Denkmal für den ersten sowjetischen Panzer, der im Mai 1945 nach Prag kam. Es gibt kaum eine dramatischere Art, ein Symbol zu verändern, als die Verwendung von Rosa als Demonstration der Harmlosigkeit. Die olivgrüne Militärtarnung hatte ihre Brauchbarkeit deutlich überdauert und sich für alle sichtbar in ihr Gegenteil verwandelt. Was folgte, war eine wahre Malschlacht. Einige Tage später strich die tschechische Armee den rosa Panzer in dunklem Olivgrün um. Das brachte die Abgeordneten der Bundesversammlung (Parlament) zum Handeln und strich den Panzer rosa um. Heute ist der Panzer im Luftfahrtmuseum Kbely ausgestellt.
Nachdem ich die Farbe Rosa in den unterschiedlichsten Kontexten diskutiert habe, möchte ich die wichtigen Eigenschaften der Farbe zusammenfassen: In der Natur vorkommend, verbinden wir Rosa mit dem Flüchtigen, Leichten, Blumigen, Süßen, Kindlichen, Jugendlichen, Erotischen und Seltenen. Im kulturellen Kontext mit dem Lieblichen, Zärtlichen, Erotisierenden, Traumhaften, Unwahren, Falschen, Künstlichen, mit Übertreibungen, mit Luxus ebenso wie mit Armut, oder einfältigen Massenprodukten. Rosa ist die Farbe der Ausschweifungen und des Exzentrischen. Rosa ist wie es ist und verstellt sich nicht. Daß die Farbe in letzter Zeit so modern geworden ist, mag daran liegen, daß sie herausfordernd und kompliziert ist. Dessen war man sich schon im Rokoko bewußt. Mit ihr umzugehen, will gekonnt sein. Rosa ist entlarvend.
Für den Einsatz in der künstlerischen Arbeit bedeutet das, daß man ungewöhnliche Kongruenzen und Widersprüchlichkeiten damit aufbauen kann. Das funktioniert mit Rosa, wegen der Breite der sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten, besonders ausgefeilt. Rosa Farbtöne können sehr unterschiedlich aussehen und wirken.
Zusammen gesehen ist das die Erfüllung auf allen sinnlichen Ebenen. Die Ästhetik ist das die Sinne betreffende. – Wenn man nun die Fülle der oben genannten Erlebnismöglichkeiten berücksichtigt, so lässt sich daraus schließen, dass Rosa eine besonders ästhetische Farbe ist: „Rosa ist Schönheit“.
Der Wunsch nach ‚La vie en rose’, ist der Wunsch nach einem Leben in vollkommener Schönheit. Dies ist ein Ideal. Das könnte auch ein Grund dafür sein, dass Rosa von vielen Menschen abgelehnt wird. Das Schreckgespenst ist die Rolle des naiven Träumers. Oder geht es vielleicht um Genußfeindlichkeit, oder das Bedürfnis alles unter Kontrolle zu haben? Das wäre zu kurz gegriffen. Rosa ist zu schön, um wahr zu sein. Wenn man jedoch mit dem Begriff Wahrheit nicht nur "Realität" oder "Realisierung" verbindet, sondern ihn umfassender denkt, dann kann sich eine neue Sicht auf Rosa ergeben. Die Schönheit von Rosa läßt sich dann akzeptieren, wenn Wahrheit unter Einbeziehung des Irrealen und des Ideals verstanden wird. Hier liegt der Wechsel der Perspektive. Das rosafarbene "Alpenglühen" könnte kontemplativ betrachtet werden, wenn man dazu bereit ist, als Reales auch Träume, Ängste und Sehnsüchte zuzulassen. Es gehört Mut dazu Empfindungen wahrzunehmen. Beim Kitsch - und dort spielt Rosa eine Hauptrolle - werden Anmutungen und Empfindungen gezielt angesprochen. Sehnsüchte und Gefühle werden ausgelöst, ... aber immerhin, sie werden sichtbar und man zollt ihnen ernsthaft Aufmerksamkeit. Eines der bekanntesten Bilder des amerikanischen Künstlers Barnett Newman heißt „Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau?“ Aber vielleicht hat man ja weit mehr Angst vor Rosa? Muß man sich vor Rosa hüten? Diese, so unmittelbar mit Gefühlen verkoppelt Farbe ist unheimlich. Ihre Ausstrahlung unterläuft die Barrieren der Ratio. Rosa ist subversiv entlarvend. Die Ambivalenz der Farbe Rosa entsteht durch den Widerspruch die gesellschaftlichen Normen mit persönlichen Empfindungen in Einklang zu bringen. Rosa, die unterschätzte Alltagsfarbe berührt viel vom Unausgesprochenen, was Menschen bewegt. Rosa ist unsachlich, o.k., aber das Sachliche ist nur ein Teil des Lebens,…in gewisser Weise ist Rosa eine großzügige Farbe. Rosa ist die Farbe des "High and Low".
Barbara Nemitz, Berlin 2005
(1) Kast, Bas, "Die Macht der Gefühle", Berliner Tagesspiegel, 23.06.02, S. 7
(2) Heller, Eva, Umfrage bei 1888 Frauen und Männern,veröffentlicht in: "Wie Farben wirken", Rohwohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1989
Deutscher Originaltext, England. Fassung in: Pink – The Exposed Color in Contemporary Art and Culture
Cantz Verlag, Ostfildern 2006
Auf die Frage nach der eigenen Existenz gibt es im menschlichen Denken keine logische Antwort. Haben wir nicht immer in die Natur hineingesehen, um etwas über uns herauszubekommen? Mit lebenden Pflanzen zu arbeiten, hat etwas Intimes und zugleich Visionäres.
Lebende Vegetation als Bestandteil kultureller Werke begegnet uns in Gärten mit profanen, religiösen und mystischen Bedeutungen. Haben die in diesem Buch gezeigten künstlerischen Arbeiten, die bis auf wenige keine Gartenanlagen sind, mit den bisherigen traditionellen Zielsetzungen etwas zu tun? Die hier präsentierten zeitgenössischen Werke mit lebender Vegetation sind im Kontext Freie Kunst entstanden. Welche Qualitäten der Pflanzen werden eingesetzt? Welche Konnotationen und Metaphern werden damit verbunden? Welche neuen Fragen und Perspektiven werden eröffnet? Welche Positionen vertreten die Künstlerinnen und Künstler, die lebende Pflanzen in ihren Werken verwenden?
Sicherlich hat die gegenwärtige Phase des offenen Stilpluralismus den Einsatz von lebenden Pflanzen befördert. Weitere Beweggründe sind so unterschiedlich wie das, was heute in der Kunst thematisiert wird. Das Gemeinsame und gegenüber der Arbeit mit toter Materie grundlegend Andere der Arbeiten mit Pflanzen ist, daß dem Ego des Künstlers etwas Lebendes gegenübersteht. Werke mit Pflanzen sind sich entwickelnde, prozessuale Formen innerhalb zeitlicher Dimensionen. Sie werden in der Verlaufsform konzipiert und enthalten Lebensplanungen. Im Gegensatz zur Arbeit mit »toter Materie« zeigen Pflanzen durch die ständigen Anforderungen an die Erfüllung ihrer Lebensbedürfnisse Abhängigkeiten.
Mit lebenden Pflanzen zu arbeiten, gleicht einer Regiearbeit und ist ein interaktiver Kommunikationsprozeß. Reize und Reaktionen ketten sich aneinander. Der künstlerische Eingriff manipuliert an lebenden Vorgängen, die ihrerseits – als Feedback - wieder bestimmte Bedingungen an die Art der künstlerischen Arbeit stellen. Die Form ist die Handlung. Sie spiegelt sich im Lebensprozeß anderer Organismen. Künstler und Betrachter können sich selbst innerhalb einer lebenden Gesamtheit erfahren, und die Rollen vom Produzenten und Rezipienten verschieben sich hin zum Teilnehmer. Die » Vitale Realität« Pflanze mit ihren interaktiven Möglichkeiten bekommt heute als Feld der echten Naturerlebnisse angesichts der » Virtuellen Realität« eine neue Bedeutung. Dabei wird vielfach nicht von Natur in einem umfassenden Sinne ausgegangen, sondern von einer Natur, die in Ausschnitten interessiert.
Medium Vegetation
Von Vegetation geht eine ambivalente Exotik aus. Sie ist gleichzeitig fremd und vertraut. Sie existiert erdgeschichtlich schon lange. Sie ist außerdem ein Bestandteil unserer Vorstellung von Landschaft. Vegetation läßt die Landschaft weich und anschmiegsam erscheinen. Ihr Anblick evoziert spürbare Empfindungen auf der Haut. Vegetation ist der Pelz des Körpers Landschaft.
Pflanzen sind ein radikales Gegenüber. Der Wortsinn von radikal, radicalis: an die Wurzeln gehend, weist in eine Richtung, die für unsere Wahrnehmung von Pflanzen bedeutsam ist. Pflanzen sind meist eingewurzelt und fest mit der Erde verbunden. Im Unterschied zu Mensch und Tier bewegen sie sich kaum von Ort zu Ort. Ihre Bewegung ist eher ein Ausdehnen und Entfalten. Der Prozeß des Wachstums ist ein metamorphes Werden und Vergehen, meist langsam, jedoch kontinuierlich voranschreitend. Pflanzen verändern sich am Ort, im Biotop. Das läßt Vegetation, läßt Pflanzen trotz ihrer sich im fließenden Wandel befindlichen Gestalt verläßlich erscheinen. Pflanzen erscheinen still. Wenn wir ein Rascheln oder Rauschen hören, dann ist es ein vom Wind verursachtes Geräusch, das durch die Resonanz der Vegetation erklingt. Die Lautlosigkeit und die Bindung an den spezifischen Standort mögen dazu führen, daß Pflanzen eher passiv und deshalb dinghaft wahrgenommen werden. Das kommt der Möglichkeit entgegen, sie wie ein Material zu verwenden.
Pflanzen existieren standortbezogen. Sie besiedeln die zu ihnen passenden Gebiete, und die Eigenheiten der Orte werden durch sie weiter ausformuliert. Sie teilen mit, welche Verhältnisse dort herrschen und sind ein Indikator für die Lebensqualität. Pflanzen sind überhaupt: Lebenszeichen.
Die Ausstrahlung vielfältiger Sinnesreize ist eine vitale Charakteristik von Vegetation. Düfte, Gerüche, Farben, Formen, Strukturen überlagern und verbinden sich und sind herausfordernde Angebote an das Empfindungsvermögen. Als Medium im Kunstwerk verwendet, hat dies nachhaltige Bedeutungen. Die von der Arbeit ausgehenden Informationen gewinnen eine größere Dichte und Tiefe, da nicht nur das vom Menschen Erdachte und Hergestellte präsentiert, sondern auch das vom Menschen letztlich nicht Erklärbare, das Andere, Bestandteil des Werkes ist. In dieser lebenden Substanz ist mehr enthalten, als wir wissen.
Die Fähigkeit sich zu äußern, gehört zu den fundamentalen Charakteristika des Lebens. Beispielsweise können Reaktionen in artspezifischen »Verhaltensweisen« sichtbar werden. Diese expressive Kompetenz wohnt auch den Arbeiten mit lebenden Pflanzen inne. Sie bedeutet für die künstlerische Arbeit, daß das Werk nicht nur von außen wahrgenommen werden kann. Die hinzukommende Dimension ist: Bestandteile des Kunstwerkes besitzen die Fähigkeit, selbst etwas wahrzunehmen und darauf mit der Komplexität des lebenden Organismus differenziert zu reagieren. Dies teilt sich direkt oder indirekt auch dem Betrachter mit.
Durch das Einbeziehen von lebenden Organismen wird die Präsenz der Kunstwerke gesteigert. Das Bewußtsein um die Veränderlichkeit der ihnen innewohnenden Lebensprozesse erhöht die Möglichkeit, die formalen Zusammenhänge der künstlerischen Arbeiten nicht nur als statischen Reiz wahrzunehmen, sondern in einer umfassenden Weise zu erleben. Das Interesse an lebenden Vorgängen ist ein direkteres als an toten Materialien. Werke mit lebender Vegetation nutzen diese Möglichkeit, zu berühren, indem sie zusätzlich eine emotionale Nähe herausfordern können. (…)
In diesem Zusammenhang begann ich 1993 das Projekt Künstler Gärten Weimar, dessen Bestandteil auch dieses Buch ist. Ich bin an einer Arbeit interessiert, bei der nicht die Fertigstellung oder Ausführung eines Werkes das Ziel ist, sondern die in Lebensformen sichtbar wird. Die Arbeit an den KünstlerGärten ist das Experiment der Seinsweise als Erkenntnisprozeß. Der Titel KünstlerGärten ist als Arbeitsbegriff gewählt worden, der ein offenes Handlungsfeld bezeichnet. Meine künstlerische Arbeit sehe ich hier darin, Strukturen und Rahmenbedingungen zu initiieren, die die Grundlagen dafür bilden, Positionen zeitgenössischer Künstler, die lebende Vegetation in ihrem Werk einsetzen, zu präsentieren und ihre besonderen Qualitäten bewußt werden zu lassen. Das gesamte Vorhaben dauert noch an und ist, für einen Garten angemessen, in die Zukunft gedacht. Um die Thematik von mehreren Seiten anzugehen und mit verschiedenen Rezeptionsmöglichkeiten zu operieren, besteht das Projekt KünstlerGärten nicht nur aus den Werken mit Pflanzen in Weimarer Arealen, wo seit 1995 zwanzig Arbeiten realisiert wurden. Mehrere miteinander verbundene Arbeits- und Handlungsebenen als Foren des Austausches existieren parallel: die Vortragsreihe für Künstler und Wissenschaftler, die projektbegleitende Zeitschrift wachsen, das Lehrprojekt im Studiengang Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar, die Grafikedition, die Führungen und schließlich das Archiv, » trans PLANT - Lebende Vegetation in der zeitgenössischen Kunst«, aus dem dieses Buch entstanden ist. (…)
Barbara Nemitz
Text aus: „trans | plant – Living Vegetation in Contemporary Art“, Hg. Barbara Nemitz, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 2000
„Der Schmerz im Angesicht des Schönen, nirgends leibhaftiger als in der Erfahrung von Natur, ist ebenso die Sehnsucht nach dem, was es verheißt, ohne daß es darin sich entschleiere, wie das Leiden an der Unzulänglichkeit der Erscheinung, die es versagt, indem sie ihm gleichen möchte.“
Theodor W. Adorno (1)
Es scheint ein weiter, windungsreicher Weg zu sein, der von den malerischen Anfängen der Kunst von Barbara Nemitz über diverse Installationen bis hin zu jener Rauminszenierung führt, die in diesem Katalog dokumentiert wird. Indes erweist sich bei genauerer Betrachtung, daß dieser Weg eher geradlinig, jedenfalls folgerichtig verläuft. Er zeigt, was heute nicht selten der Fall ist, daß „Stil“ und „Handschrift“ stärker als früher „nach innen“ genommen wurden, nicht mehr an formalen Äußerlichkeiten festzumachen sind. (…)
Deutlicher vielleicht noch als bei der Betrachtung der in Heidelberg realisierten Installation wird dieser Paradigmenwechsel vom Einzelwerk zur komplexen kommunikativen Strategie, wenn man das Projekt der Künstlergärten betrachtet, das Barbara Nemitz als Professorin an der Bauhaus-Universität Weimar derzeit realisiert und aus dem sich zweifellos die Idee zur Heidelberger Inszenierung herleiten läßt. Zu ihrem Gartenprojekt stellt die Künstlerin fest: „Bei meiner Arbeit Künstlergärten' gehe ich nicht von einem Endprodukt aus, das es zu realisieren gilt, sondern sehe die Formen in ihrer Veränderung. Alles reagiert und agiert im ständigen Miteinander, ist aufeinander bezogen und abhängig“. Und an anderer Stelle: „Die gesamte Arbeit an meinem Projekt Künstlergärten ist die Form meiner künstlerischen Arbeit. Diese Form ist ein sich entwickelnder und ständig verändernder Prozess, bei dem ich mit dem Leben arbeite. In vielschichtigen kommunikativen und interaktiven Beziehungen mit dem Lebendigen, dessen Teil ich bin, möchte ich etwas entstehen lassen. Es werden sich Einzigartiges, Charakteristisches, Gemeinsames und innere Verwandtschaften in den Beziehungen zeigen“. (4)
Mit dem Hinweis auf übergreifende kunsthistorische Zusammenhänge ist es jedoch nicht getan. Der Blick auf das frühere Schaffen von Barbara Nemitz zeigt, bei schon damals bemerkenswerter Bandbreite und Flexibilität der gestalterischen Mittel und stilistischen Idiome, nicht nur das Festhalten an einer durchgehenden Thematik - die Landschaft, die Schönheit-, sondern, damit zusammenhängend, auch eine von Anfang an zu beobachtende Tendenz zur Ausweitung der traditionellen Möglichkeiten des Tafelbildes, von dem Barbara Nemitz ausging, und zur Entwicklung komplexer und dynamischer Systeme.
Landschaft war für Barbara Nemitz nie etwas Isoliertes im Sinne einer motivischen Festlegung, vielmehr immer zugleich und vor allem Reflexion über unser Verhältnis zu ihr, synonym für eine Schönheit, die um so nachhaltiger erlebt wird, je schmerzhafter die Distanz bewußt wird, die uns von ihr scheidet. Denn bekanntlich wird Natur immer erst da als „schön“ erlebt, wo man sich ihrer Gefährdung, ihres Verlustes, auch der als Verlust erlebten Trennung von ihr bewußt wird. „In Zeitläufen, in denen Natur dem Menschen übermächtig gegenübertritt ist fürs Naturschöne kein Raum: agrarische Berufe, denen die erscheinende Natur unmittelbar Aktionsobjekt ist, haben, wie man weiß, wenig Gefühl für die Landschaft“, weiß Adorno. Und: „Über lange Perioden steigert sich das Gefühl des Naturschönen mit dem Leiden des auf sich zurückgeworfenen Subjekts an einer zugerichteten und veranstalteten Welt; es trägt Spuren von Weltschmerz“.(5) Nicht von ungefähr trägt eine der eindrucksvollsten Installationen von Barbara Nemitz, die dem Betrachter einen aktiven Part zuweist - auf der Schaukel ihre Bilder in Bewegung erlebend, vor und zurückschwingend, sanft oder heftig, sich wohlig wiegend, sich annähernd und wieder entfernend, eintauchend und wieder auftauchend – den Titel ,,Schönheit und Schmerz“.
Über die Relation von Natur-Schönheit und Kunst-Schönheit ist viel philosophiert worden. Adorno bringt in seiner „Ästhetischen Theorie“ dieses Verhältnis auf den plausiblen Nenner: „Kunst ahmt nicht Natur nach, auch nicht einzelnes Naturschönes, doch das Naturschöne an sich“.(7) Dies trifft gewiß auch auf die Arbeiten von Barbara Nemitz zu, doch darüber hinaus ist es eben dieser Themenbereich, der den Inhalt ihrer Arbeit ausmacht Wenn sie ihn behandelt, so sucht sie nicht die vergebliche Identität, sondern trachtet danach, sich dem Geheimnis der Schönheit gerade im Zwischenraum beider Bereiche, im vollen Bewusstsein der Distanz, anzunähern. Dieses „Annähern“ aber ist nur als Moment der Bewegung, als Prozess, als dynamischer Vorgang denkbar.
Daß „das Schöne“ sich prinzipiell nicht definieren läßt, ist Barbara Nemitz natürlich bekannt, daß es zu jenen Axiomen gehört, die uns selbstverständlich erscheinen, evident und in sich plausibel, allerdings nur solange, wie wir sie nicht rational zu erfassen versuchen „Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe bestimmt, was schön sei, geben“, stellte schon Kant fest, „denn alles Urteil aus dieser Quelle ist ästhetisch; d.i. das Gefühl des Subjekts, und kein Begriff eines Objekts, ist sein Bestimmungsgrund“.(8) Genau darin aber sieht Barbara Nemitz die entscheidende Herausforderung: „Mich interessiert „Schönheit als umfassender Begriff, als Vorstellung, der ich mich nähern kann, die letztendlich aber nicht darstellbar ist. Ich glaube, es ist in der Kunst sinnvoll, an Dingen zu arbeiten, die nicht zur Vollendung kommen können“, notierte sie in einem 1997 verfaßten Text.(9)
Barbara Nemitz, die ihr Werk ganz und gar der Tradition der Romantik verpflichtet weiß, hat sich dem Thema des Schönen verschrieben, und diese Recherche verbindet die unterschiedlichsten Äußerungen und Facetten ihres Schaffens miteinander. Sie sucht nicht die Konfrontation – und sei es die mit dem konventionellen Tafelbild–, sie bemüht sich vielmehr um Integration, um Versenkung, um Identifikation. Dabei scheut sie keineswegs die Berührung mit Klischees, mit dem Kitsch, beteuert gar, danach befragt, sie meine, was sie formuliere, keineswegs ironisch. Im Defizit sucht und findet sie das Desiderat, in der Perversion das Echte, Wahre, Schöne. In dieser Suche manifestiert sich die Kontinuität und Radikalität ihrer Arbeit.
Die Anfänge - etwa das starkfarbig gemalte Matterhorn (!) von 1972 - zeigen die Nähe zur Pop Art und zum Abstrakten Expressionismus. Natur wird als etwas längst Vermitteltes zitiert und reflektiert. Adorno spricht in seiner Ästhetischen Theorie von der „Erkenntnis, daß Natur, als ein Schönes, nicht sich abbilden läßt. Denn das Naturschöne als Erscheinendes ist selber Bild. Seine Abbildung hat ein Tautologisches, das, indem es das Erscheinende vergegenständlicht, zugleich es wegschafft. Die keineswegs esoterische Reaktion, welche die lila Heide und gar das gemalte Matterhorn als Kitsch empfindet, reicht weit über derlei exponierte Sujets hinaus: innerviert wird darin die Unabbildbarkeit des Naturschönen schlechthin“(10) und bringt damit das alttestamentliche Bilderverbot in Verbindung, von dem er sagt, es habe „neben seiner theologischen Seite eine ästhetische. Daß man sich kein Bild, nämlich keines von etwas machen soll, sagt zugleich, kein solches Bild sei möglich. Was an Natur erscheint, das wird durch seine Verdoppelung in der Kunst eben jenes Ansichseins beraubt, an dem die Erfahrung von Natur sich sättigt“.(11)
Barbara Nemitz verdoppelt nicht. Im Unterschied zur kitschigen Reproduktion betont sie die Künstlichkeit der Bezugnahme, die Distanz somit, die überhaupt erst zum Bewußtwerden der Schönheit führt, aber sie thematisiert - in der wehenden Weichheit seiden verschleierter Tücher, auf die sie ihre Landschaften aufbringt, zugleich die Sehnsucht und Sensibilität des Betrachters. Die Ausstellungssituation, auf die hier angespielt wird, hat schon viel von einer Raum-Inszenierung, zumal hier, 1980 im Wilhelm-Lehmbruck-Museum Duisburg, eine unmittelbare Konfrontation von „künstlichen“ Landschaftsbildern und Ausblick in die ,reale" (Park-)Landschaft gegeben war.(12)
Es folgten großformatige, dramatische Landschaftsbilder ,heroisch“- romantischen Stils, die auf Pergamin und Batist gemalt wurden und mit ihrem transluziden Charakter neue Wirkungen und auch neue Inszenierungsweisen ermöglichten bis hin zur Promenade der „Nachtlandschaften“, einer Inszenierung im Berliner Tiergarten, bei der Landschaftsbilder durch große Feuer durchleuchtet und von wandelnden Sängern musikalisch interpretiert wurden (1987). Wieder führte die Annäherung von Bild und Vorbild nicht zur Vermischung, sondern erzeugte ein Spannungsfeld, indem Distanz bewußt gemacht wurde, eine unauflösbare und gerade deshalb als Aufgabe gestellte Aporie, in dem der Betrachter als Akteur auf Geschichte und damit auch auf sich selbst verwiesen wurde. In der Heidelberger Ausstellung ,,Blau-Farbe der Ferne” (1990) gestaltete Barbara Nemitz einen glühend roten Raum, aus dem in blassem, zartem Blau sich wie Fenster (Aus- oder Ein-) Blicke in die uns damals, vor der Wende, noch so fernen Landschaften der Mark Brandenburg („Perlen im Sande der Mark“, erstmals gezeigt im Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1982) eröffneten.
In Heidelberg nun hat Barbara Nemitz zehn Tonnen Erde – keineswegs sorgsam gesiebte, sondern grobe, mit Steinen und Wurzeln untermischte – in die elegante, moderne Ausstellungshalle des Kunstvereins bringen lassen und allein damit schon einen provozierenden Kontrast geschaffen. Doch nicht genug damit: Diese Erde wurde mit schimmernden Fäden ornamental bestickt, freilich keineswegs flächendeckend, sondern eher sparsam und beiläufig, so, als ob hier und da etwas aufkeimen und Form gewinnen, sich blütenhaft entfalten würde, etwas, was dem Substrat, aus dem es erwuchs, seltsam fremd und doch eigenartig vertraut und verwandt schien.
Immer wieder führt die Künstlerin den Betrachter in das Spannungsfeld der Verunsicherung. Gewißheit und Geborgenheit gibt es nicht, gerade deshalb aber ist Annäherung möglich. Hier ist eine mehrfache Brechung zu beobachten, anders als in den folgenden Beispielen, die fast so etwas sind wie die Verheißung einer Erfüllung. Denn auf der Galerie ergänzten Fotos die Präsentation, in denen gezeigt wurde, wie Barbara Nemitz das Verfahren, Erde zu be-sticken, auch in der „freien Natur“ angewandt hatte, wo – anders als auf der „nackten“ Erde in der Ausstellungshalle – die seidenen Fäden und Muster nicht nur durch eine überraschende Affinität zur umgebenden Flora verblüfften, sondern auch, in Fotoserien dokumentiert, mit der Zeit tatsächlich von der umgebenden Natur nicht etwa isoliert, ausgesondert und abgestoßen, sondern im Gegenteil integriert und amalgamiert, überwuchert und zum Schluß regelrecht aufgelöst wurden.
Ein „Lebendes“ Beispiel solcher „Symbiose“ war ebenfalls Bestandteil der Ausstellung: Eine bestickte Moosinsel, die durch eine Plastikplane vor dem Austrocknen bewahrt wurde. Bezeichnenderweise legte die Künstlerin keinerlei Wert darauf, die Plastikabdeckung „ästhetisch“ zu gestalten – genauso wenig, wie sie sich beim Besticken des großen Erdfeldes um „kunsthandwerkliche“ oder dekorative Effekte bemühte. Ganz im Gegenteil – genau diese suchte sie zu vermeiden. Nicht um die Herstellung eines „schönen Produktes“ ging es ihr, sondern um die Geste, um ein Sich-Verhalten also, eine Aktion, eine Tätigkeit. Bezeichnenderweise erhielten Ausstellung und Installation denn auch einen Titel, der den Akzent auf ein Tätigkeitswort lenkte: Nicht das schöne Leben“ im Sinne einer Eigenschaft war das Thema, sondern eine Haltung: „Das Schöne (zu) leben“.
In der hier besprochenen Rauminstallation geht es Barbara Nemitz, anders als vielen Kollegen und Kolleginnen, nicht so sehr um einen konkreten Raum, mit dem sie sich gezielt auseinandersetzt, ihre Arbeit ist weniger ortsspezifisch als vielmehr übertrag- und somit auch anderswo realisierbar. Worauf es ankommt, ist die Schaffung eines Erlebnis-Raumes, in den der Betrachter eintritt, ja eintaucht. Er wird zum aktiven Mitspieler, auch wenn seine Rolle hier, anders als bei der eindrucksvollen Installation mit den Schaukeln (13), „nur“ im Schauen besteht. Es ging und es geht, wie bereits mehrfach angedeutet, der Künstlerin immer um Prozesse, um Bewegung, und bewegen muß sich der Betrachter auch, um diese Inszenierung erfassen zu können, sich von ihr bewegen zu lassen.
In diesem Zusammenhang kommt der nicht nur anachronistisch, sondern im gegebenen Kontext auch reichlich absurd anmutenden Aktion des Stickens eine besondere Bedeutung zu. Daß es dabei nicht um Dekoration geht, wurde bereits ausgeführt. Wichtig ist vielmehr die Geste. „Sticken“, sagt Barbara Nemitz, „ist intensiver als Zeichnen“, ist „formalisierte Zuwendung“. Das Ergebnis verweist nachhaltig auf ein Handeln, auch, wenn de Betrachter dessen selbst nicht ansichtig geworden ist. Natürlich wird immer wieder die Frage gestellt, wie dies denn überhaupt möglich, wie technisch machbar sei. Doch diese Frage führt am Entscheidenden vorbei: Der Intensität einer absurd erscheinenden Hinwendung, einer geradezu erotischen Zuwendung, die meditativen Charakter hat, große Sorgfalt und Konzentration voraussetzt, größtmögliche Nähe sucht, innige Berührung, Eindringen in das Fremde, Andere, die in der Verletzung Bindung ermöglicht.
„Das Schöne leben“ bedeutet für Barbara Nemitz nicht eine ästhetische Stilisierung des Alltags, wie er etwa in der höfischen Gesellschaft des Rokoko oder in den Salons des Jugendstils praktiziert wurde, sondern aktive, teilnehmende, anteilnehmende Zuwendung. Diese Kunst versteht sich nicht als ökologischer Fingerzeig, wohl aber als Geste, in der Natursubstanz und menschliches Produkt, menschliches Handeln miteinander in Verbindung gebracht werden. Fremdheit und Nähe treten in ein dialektisches Verhältnis zueinander, das modellhaften Charakter haben kann, womöglich entgegen aller Vernunft. Erde besticken: Das ist wie auf dem See wandeln, wie Wasser in einem Sieb tragen, oder, um den Beispielen aus Bibel und Heiligenlegende noch solche aus der neueren Kunstgeschichte beizufügen, wie eine Wasseroberfläche bedrucken (Shimotani) oder sie mit Säge und Drillbohrer bearbeiten (Plessi). Manchmal ereignet sich ja das Wunder, und das Unmögliche wird möglich. „Das Feld des Absurden bestellen“, nennt Barbara Nemitz diese Arbeit.
Hans Gercke
(1, 5,7,) Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, zitiert nach Michael Hauskeller, „Was das Schöne sei“, dtv wissenschaft 1994
(4, 9) Barbara Nemitz, Handschriftliche Notizen zu ihrer Arbeit, 1997. – Zum Projekt „Künstlergarten Weimar“, vgl. die Zeitschrift „wachsen“, die von Barbara Nemitz im Verlag der Bauhaus Universität Weimar herausgegeben wird.
(8) Immanuel Kant, Analytik des Schönen, § 17 Vom Ideale der Schönheit, zit. nach Michael Hauskeller
(10, 11) Hauskeller, S. 403 und 404
(12) Vgl. Katalog „Von der Fläche in den Raum“, Neuer Berliner Kunstverein, Berlin 1985
(13) „Schönheit und Schmerz“ – Ein Landschaftszyklus, vgl. Katalog, Berlin 1985
Die Darstellung von Schönheit als universale Größe ist Thema meiner Arbeit. Landschaft empfinde ich als Inkarnation von Schönheit. Ich ergründe die Inhalte von Landschaft in Malerei und Inszenierungen. Meine Arbeit Künstlergarten ist ein weiteres Annähern und Einkreisen der Bedeutung von Landschaft.
Ich setze bei der Arbeitshaltung an. Erst wenn ich mit meinem Tun im Einklang bin, kann die Form folgen. Die Arbeit am Künstlergarten bedeutet das Experiment der Seinsweise als Erkenntnismethode. Sie führt mich in den Garten, weil ich dort anders sein kann.
Künstlerische Arbeitsmethoden sind Überhöhungen und Deformierungen der alltäglichen. Tradierte Sinnzusammenhänge werden neu definiert. Die Hinwendung zum Pflanzen bedeutet, in Lebensräumen zu denken und Gestalt in der Veränderung zu wollen. Es ist das Gegenteil von Stillstand. Interaktionen entwickeln sich. Formen entstehen und sind vergänglich.
Pflanzungen sind ein radikales Gegenüber. Der Wortsinn von radikal, radicalis, dem Eingewurzelten, überlagert sich hier mit meiner Empfindung. Das Radikale ist eine innige Form der Verbundenheit. In der Natur zu sein, in der Landschaft zu sein und sich mit ihr durch das Pflanzen zu verbinden, ist mein Arbeitsansatz.
Was ist Vegetation? Wo steht sie zwischen Mensch und Materie? Eine ambivalente Exotik geht von ihr aus. Sie ist gleichzeitig unbekannt und doch vertraut, denn sie existiert schon lange. Ebenso wie Landschaft, deren Teil sie ist. Vegetation lässt die Landschaft weich und anschmiegsam erscheinen. Ihr Anblick evoziert spürbare Empfindungen auf der Haut. Die Vegetation ist der Pelz des Körpers Landschaft.
Die Ausstrahlung der Sinnesreize ist vitales Zeichen der Vegetation. Üppiges Blühen und Wachsen weist auf Wohlbefinden hin. Die biblischen Vorstellungen des Paradieses zeigen dieses verheißungsvolle Glück. Vegetation steigert die Landschaft hin zum Angenehmen und Lustvollen.
Die Darstellung von Schönheit ist das klassische Thema der Künste. Meine Vorstellung von Schönheit ist umfassend. In dieser Totalität ist sie nicht darstellbar. Mich interessiert die zeitlose Schönheit in ihrer Offenheit. Ich erahne sie in der Natur. Die Erfahrung von Schönheit in dieser Universalität verlangt eine Haltung mit der Fähigkeit zur Hingabe und Liebe. Der Garten ist der Ort der Handlung.
Künstlerische Pflanzungen sind Spiegel sublimierter Empfindung von Schönheit.
Barbara Nemitz
„wachsen“ Arbeit am Künstlergarten Weimar, Heft 1, Weimar 1995
1989—90 schuf Barbara Nemitz eine Sinne, Emotionen und Erinnerungen ansprechende großformatige Malerei-Installation, der sie den naturromantisch klingenden Titel Im Waldesdom gab. Dargestellt ist die Impression einer Harzlandschaft, zu der eine alte Fotografie als Vorlagemotiv gedient hat.
Wer mit offenen äußeren und inneren Augen vor diesem Kunstwerk steht, wer bereit ist, sich meditativ ganz seinen optischen und psychischen Empfindungen hinzugeben, der wird erkennen, dass es Barbara Nemitz nicht um die Wiedergabe einer Landschaft geht, sondern um deren Sinn für den Menschen. Ihre Installation Im Waldesdom knüpft assoziativ an die Natursicht der deutschen Romantik an. Johann Wolfgang von Goethe verglich 1771 in seiner Schrift Von deutscher Baukunst die Architektur des gotischen Straßburger Münsters mit dem Walde, und Ludwig Tieck sah 1798, beschrieben im Roman Sternbalds Wanderungen gotische Kirchenschiffe als schattig-dämmrige Haine an.
Der »deutsche Wald« war seit der Romantik zu einem Ort nationaler Identitätsfindung geworden. Romantische Dichter besangen die »Waldeslust« und »Waldeinsamkeit«. Sie beschrieben aber auch den verzauberten bzw. verzaubernden Wald voller archaischer Naturmystik, belebt von Hexen, Feen und Kobolden. So ruft Barbara Nemitz' Harzlandschaft Im Waldesdom in Erinnerung, dass Heinrich Heine dieses wilde Gebirge mit seinem dunklen Tann in seiner Dichtung Die Harzreise beschrieb. Auch Goethe als geologisch interessierter Minister des Weimarer Hofes sowie Joseph von Eichendorff haben diese gebirgige Waldlandschaft aufgesucht und für ihre Eindrücke bewegte Worte gefunden. Die Tradition deutschen Waldempfindens lebt noch in der modernen Waldessehnsucht nach, obwohl bereits vor über einhundert Jahren, als die Popularität des »deutschen Waldes« begann, dieser weitgehend seine Unschuld verlor. Heute ist er partiell ein ökologisches Spiegelbild der menschlichen Natur.
1987 hat Barbara Nemitz über gemalte und transparente stürmische Nachtlandschaften, bewegt von Feuern hinterleuchtet und stimmungsvoll von Gesang begleitet, in der nächtlichen Parklandschaft des Berliner Tiergartens den emotionalen Bezug zur Romantik bzw. das heutige betäubte Naturempfinden angesprochen. Jedoch »ist die Wiedergeburt der Romantik nicht die Losung, schon garnicht die Lösung«, schrieb 1987 Bernhardt Buderath zu diesen Werken von Barbara Nemitz. »Die Künstlerin — genau besehen — zitiert auch gar nichts, sie lässt vielmehr Motive anklingen, die auf romantische zurückgeführt werden können. Sie bedient sich eines romantischen Vokabulars, aber verleibt es mit neuen Spielregeln einer neuen Sprache ein. Es ist die Sprache des Kompilierens, der Steigerung, der Übersteigerung — und als retardierendes Moment die Sprache der Ruhe, der Gelassenheit angesichts der Polarität der Welt.«
Ähnliche Empfindungen löst auch die atmosphärische Malerei Im Waldesdom aus. Säulenartig aufragende Baumstammreihen und das schräg von links oben durch die imaginären Baumwipfel einfallende Sonnenlicht vermitteln den Eindruck eines nebligen und kühlen vegetabilen Kirchenschiffs. (…) Die Wirkung der bühnenbildartig im Raum geschichteten, mit der Spritzpistole bemalten sechs seidenen Tüllbahnen ist von einem hohen Aspektreichtum begleitet, der sich aus der Bewegung vor dem Bilde und aus der wechselnden Intensität und Qualität des Lichts ergibt. Es ist eindrucksvoll, wie vielseitig sich die Bildstimmung unter Kunstlicht oder im Lichte der Tageszeiten und des variablen Wetters ändern kann. (…) Barbara Nemitz' luftige Malereien vermitteln einen atmosphärischen und stimmungsvollen Augenblick. Ihre lichtmalerischen Möglichkeiten gestatten Barbara Nemitz eine formale und aktuelle Neuinterpretation des »romantischen« Aufgreifens einer Naturimpression, die sich quasi einer visionären Erinnerung nähert.
So sind die feinen Tüllbahnen der Komposition Im Waldesdom eigentlich nur Hilfsmittel, um die atmosphärische Erscheinung desselben sichtbar zu machen. Sie sind kaum existent, sind Luft wie der Raum, in dem sie schweben, sind alles in allem ein Erscheinungsträger, ein Medium für das Sujet aus Licht und Farbe, das einer Luftspiegelung, einer Fata Morgana im realen Raum gleicht. Das Schweben der leichten Tüllbahnen mit dem »Bilde im Raum« unterstreicht die Schwerelosigkeit dieser »Luftmalerei«, in der die Masse nur als verschwommene Vorstellung assoziiert wird. (…)
Die luftig-zarte Bildmaterialisation sowie die kühle Farbigkeit aus Blau und Gelb, sensiblem Grün oder Violett fordern meditative Kontemplation heraus. Aber intensiver noch stimmt den Betrachter der Natureindruck des Bildes ein. Besonders dann, wenn er sich allein und frei davor fühlt, weil die Komposition von hoher Sensibilität ist und sich in der Intimität der Mensch eher zu seinen tiefen Empfindungen bekennt. Imaginativ kann der Interessierte in die Tiefen des Waldesdomes vordringen. Er kann die Farben intensivieren durchmischende Überschneidungen, kann sie heller oder deutlicher erleben. Er kann das Bild in seinem Sinne zur Wirkung kommen lassen und ist nicht nur staunender Betrachter vor demselben, sondern aktiver Mensch in ihm. Und er kann, wie es schon die »romantische Ironie« erlaubte, aus dieser Imaginationsreise wieder auftauchen und erblicken, dass das gemalte Bild und er sich in der plastischen Realität befinden.
Vor der malerischen Installation Im Waldesdom wird die Frage nach der räumlichen Ausdehnung der Farbe und die Unsicherheit, in welcher Entfernung und auf welcher Ebene sich der fixierte Gegenstand befindet, zur visuellen Entdeckungsreise. Denn die optische Schärfe der Bildtiefe lässt sich nicht so einfach herstellen oder bestimmen wie beim gewöhnlichen räumlichen Sehvorgang. Die Leichtigkeit der gesamten, im leichten Nebel liegenden, lichtdurcheilten Vision, die einer materialisierten Imagination gleicht, überträgt sich beim intensiven Hinsehen auch auf das Empfinden des Betrachters. Vieles ist sichtbar, aber nicht alles fassbar. Das Erwartungsvollste ist die Idee, solange sie im Geiste bleibt. So ist diese malerische Installation von Barbara Nemitz eigentlich nur der Hauch einer ideellen Ausformulierung.
Barbara Nemitz hat ganz im Sinne dieser Beobachtung den gegenständlichen Aspekt ihres Werkes nicht in den Vordergrund gestellt, sondern schon während des Malprozesses das Sujet erheblich als informelle, abstrakte Licht-Farbe-Struktur, durchwirkt vom Raum, angelegt. Unsere Assoziation, unsere Imagination, unser Standort, unser Bewusstsein und unsere Bewegung vor dem Motiv sowie der wesentliche Mitgestaltungsfaktor Licht lassen uns erkennen, was wir sehen wollen. Die Vielfalt der Erkenntnisse liegt ganz beim Individuum. Nichts ist von Barbara Nemitz ausformuliert, nichts ideologisch fixiert. Das Sehen wird beim Erleben ihrer Werke zur Entdeckungsreise des eigenen Empfindens.
Gerhard Kolberg
Katalog „Barbara Nemitz”, Kunstsammlungen zu Weimar, Landesmuseum (Neues Museum), Weimar 1995
Im Tiergarten, Alpenlandschaft mit See, Waldlichtung — Der Betrachter sieht sich konfrontiert mit scheinbar konventionellen Landschaftsausschnitten, die in der Wahl und Zusammenstellung des Materials jedoch eine ungewöhnliche Wirkung entfalten. Lichttragende helle Pastellfarben leuchten in der schwarzen Silhouette des Motivs auf braunem Jutegrund. Ebenfalls aus Jute gearbeitete, gepolsterte Rahmen verstärken den Eindruck, den die hellen Pastelle auf dem groben Bildträger ergeben. Für Barbara Nemitz ist Landschaft „ein seit langem gültiges Symbol für Schönheit.... Sehnsucht nach Schönheit heißt, dass man sich eine Vorstellung davon macht. Dieses Bild kann nicht einseitig sein. Es muss eine allgemeingültige Harmonie ausstrahlen. In der Gestalt der Landschaft zeigt sich eine Ordnung, die über das vom Menschen Geschaffene hinaus Teil des Unendlichen ist. Vielleicht möchte ich mich durch meine Arbeit diesem großen Rätsel näherbringen."
Für fast alle ihre Arbeiten hat Barbara Nemitz ein spezielles Verfahren auf textilen Bildträgern entwickelt. In den um 1980 entstandenen farbenfreudigen 'Malereien' auf Satin oder Seide, Harzlandschaft, Brechende Welle, Staubbachfall, ist, wie Christian Beutler es ausdrückt, Natur in ihrer "gesteigerten Erscheinung" dargestellt: Meer, gischtende Flut, Wald, Berg oder Wasserfall. Auch die mit Bedacht gewählten Riesenformate sollen das Erlebnis der Landschaft emotional aktivieren. Irgendwann wollte Barbara Nemitz nicht mehr ignorieren, dass das Siebdruckverfahren sehr umweltschädlich ist. Die Entscheidung, diese Technik aufzugeben, war schmerzhaft, führte aber zu neuen Formen des künstlerischen Ausdrucks.
Wie die Künstlerin ausdrücklich betont, geht es ihr in ihrer Arbeit nicht um einen Nachruf auf die schwindende Natur — Landschaftsmalerei heute ist gemeinhin anders, zeigt menschliche Spuren in der Natur, die deshalb wohl auch nicht ohne Grund von uns nicht mehr als Landschaft, sondern als Umwelt bezeichnet wird. Barbara Nemitz geht es vielmehr darum, das Bewusstsein für die Kraft spürbar werden zu lassen, die sich in Schönheit manifestiert. Schaukeln angesichts der Dia-Projektion von Landschaften bei leiser Musik (Schönheit und Schmerz, Rauminszenierung, 1985), Singen und Gehen in nächtlich-sommerlicher Landschaft (Nachtlandschaften, Aktion. 1987) beruhigt, ruft Erinnerungen wach und lässt zugleich auch Schmerz, Sehnsucht spürbar werden. Ihre Pastellkreidearbeiten auf Jute nennt Barbara Nemitz: "Malerei mit erloschenen Farben... Etwas, das erloschen ist, weist durch sein Nichtvorhandensein auf das hin, was war oder sein könnte". Das heliotrope Leuchten in Blau, Grün, Rosa und Gelb, das manchmal in der Natur zu beobachten ist, könnte ohne Brechung der malerischen Mittel nicht unbeschadet wiedergegeben werden. Barbara Nemitz gelingt dieses Wagnis mit Hilfe traditionell sich widersprechender Materialien. Was wir in ihren Bildern sehen, ist allerdings nicht das, was ist, sondern es ist das Leuchten in den Augen dessen, der sieht.
Ruth Irmgard Dalinghaus
Katalog „Nordbild/Noordbeeld“, Hg. Drents Museum Assen, NL und Landesmuseum Oldenburg, 1992
Das Thema Landschaft interessiert wieder. Landschaftsgärten wie Wilhelmshöhe oder Wörlitz erhalten Besucherzuwachs, die Literatur dazu schwillt an und wird auch gekauft; schließlich knipst jedermann im Urlaub Landschaftsbilder und hält die seinen so schön, daß er Freunde und Nachbarn zu Dia-Abenden verurteilt. Nur die Kunst scheint das Thema Landschaft aus ihrem Repertoire gestrichen zu haben.
Oder doch nicht? – Da baut in Berlin in aller Stille Barbara Nemitz einen Werkbestand auf, der uns die Landschaft als Gegenstand der Kunst in neuer Weise nahe bringt. Frau Nemitz` Landschaften sind inszenierte Erlebnisse, die sich aus alten Malereien oder Fotografien aus der Pionierzeit zusammensetzen und diese in räumlichen Installationen darbieten. Die Landschaft der Barbara Nemitz ist durch das reinigende Bad der abstrakten Malerei hindurchgegangen und erscheint nun neu als ein Konzept aus Formen und Bezügen.
Trotz ihres analytischen Aufbaus sind aber Barbara Nemitz‘ Landschaften integrierte, integrale Erscheinungen, in die der Betrachter eintauchen soll. Deshalb auch ihre Präsentation als Installation im Freien oder in großen Räumen, und deshalb – im Falle der bevorstehenden Kasseler Aktion – das Angebot an den Zuschauer, sich auf eine der an der Decke angebrachten Schaukeln zu setzen. Dabei hat das Schaukeln (mindestens) zwei Funktionen: Es verwischt den Standpunkt, oder den Augenpunkt, wie man in der Perspektivlehre sagt, und verändert damit die Tiefe des virtuellen Bildes; – hierbei helfen auch die mehrfachen Schichten von Schleiern, die Barbara Nemitz als Mal“grund“ oder als Projektionsschirm benützt. Und zum zweiten ist das von Kindern so geliebte Schaukelgefühl eine Liebkosung des Körpers und eine Entrückung der Stimmung hin zur Unbeschwertheit und Schwerelosigkeit.
1987 hat die Künstlerin bei ihrer Groß-Inszenierung “Nachtlandschaften“ im Berliner Tiergarten zusätzlich zur nächtlichen Parklandschaft gemalte Landschaften aufgestellt, die sie auf semitransparenten Folien angebracht hatte und von hinten durch Feuer erleuchtete. Während der eigentlichen Aktion zogen dann in dieser gedoppelten Landschaft hundert spazierende Sänger ihre je eigene, isolierte bahn und sangen ihre Lieder vor sich hin – alles nach einem genau programmierten „Zufallsplan“.
Barbara Nemitz benützt für ihre Landschaftsbilder aus zweiter Hand, Lorrain-Bäume etwa oder alte Fotos. Solche Bilder verarbeitet sie auch zu „richtigen“ Bildern, wobei sie die Farben verschiebt oder auf ein stilles Blaugrau reduziert oder mit durchsichtigen Schleiern das Bild dem Betrachter wegnimmt. So entsteht eine Steigerung der Bedeutung: Die Bilder sind uns altbekannt und doch neu.
In unserer Zeit der Landschaftszerstörung, der Sehnsucht nach echter, unberührter Natur gibt uns Barbara Nemitz auf der Ebene der Kunst neue Erlebnisse. Das Unerreichbare, die Versöhnung von Kultur und Landschaft, wird als spielerische und nachdenkliche Aktion reflektiert.
Lucius Burckhardt
„Kassel kulturell“, Kassel 1991
Zunächst verspricht schon der Titel Nachtlandschaften, promenades nocturnes Romantisches. In vielen Modi dieser Inszenierung von Mensch und Kunst in einer Parklandschaft wiederholt Barbara Nemitz romantische Motive und damit auch romantischen Sinn. Die rasenden Wolkenfetzen, die dramatisch gestaltete Vegetation, der Mensch in der Einstimmung auf die Nacht in der Natur, nicht zuletzt diese Nachtmystik als solche, die sich in der Nacht als Austragungsort der Kunst zeigt, und der Rückgriff auf das theatralisch-atomistische Element Feuer: all' diese Motive scheinen den Wanderer langmütig und kurzweilig zugleich in die Welt Caspar David Friedrichs oder Novalis' zurückzuwerfen. Einen Spaziergang lang der Tiergarten als Museum, Romantik live?
Die Künstlerin kennt keine Defizite in Sachen Romantik. Es geht ihr nichts ab; nicht die Abendröten und Mondenscheine, keine Naturandacht oder -mystik, kein Land, wo Milch und Honig fließen. Barbara Nemitz möchte nichts wieder holen um zu wiederholen. Die Wiedergeburt der Romantik ist nicht die Losung, schon gar nicht die Lösung. Die Künstlerin — genau besehen — zitiert auch gar nicht; sie lässt vielmehr Motive anklingen, die auf romantische zurückgeführt werden können. Sie bedient sich eines romantischen Vokabulars, aber verleibt es mit neuen Spielregeln einer neuen Sprache ein. Es ist die Sprache des Kompillierens, der Steigerung, der Übersteigerung — und als retardierendes Moment: die Sprache der Ruhe, der Gelassenheit angesichts der Polarität der Welt.
Worin bestehen diese Steigerungen? Barbara Nemitz greift das Motiv des Nächtigen auf, doch sie belässt es nicht dabei. Die Nacht taucht — malerisch betrachtet — die Natur ins Dunkel, sie entfärbt die farbig satte Landschaft. Die Künstlerin wiederum malt Natur, malt Landschaft schwarz. Eine doppelte Entfärbung: die Entfärbung der Natur durch den Wegfall des Lichtes und die Entfärbung der Natur durch die Malerei. Eine Steigerung des Nächtigen. Noch unterstützt durch die silhouettierende Wirkung des dahinter platzierten Feuers erscheint die gemalte Landschaft als Scherenschnitt, als vordergründig. Das ist ein romantisches Moment, aber aus dem Geiste des Rokoko. Denn die Künstlichkeit des Kunstwerkes muss gar nicht erst entlarvt werden; es gibt seine Künstlichkeit von vorneherein preis. Sie wird durch das Wehen der leichten Leinwand und das Flackern des Feuers so intensiviert, dass die eigentlich lebendige Natur dahinter sanft und erhaben zurücktritt. Diese gewollte Dramatisierung des Kunstwerkes gaukelt nicht eine Pseudoexistenz vor, sondern macht das Kunstwerk als Scheinhaftes plausibel. Somit zergliedert diese Duplizierung der nächtlichen Landschaft Natur und Kunst in das Verhältnis von Epiphanie und Diaphanie.
Die Romantik wirkt darin nach, dass aus dieser Zergliederung keine Antinomie wird. Wie im englischen Landschaftsgarten gehen Natur und Kunst eine Synthese ein, die beiden ihre Idiome belässt.
Neben den Schemen der Landschaft, dem Schwarz als Farbe der Nacht, wird der bildliche Raum vom durchscheinenden Feuer gefüllt. Damit nimmt die Leinwand auch warme Farben an. Sie leuchtet, ja glüht auf und tritt somit in ein anderes Spannungsverhältnis ein, das von der zunehmenden Kühle der Nacht und der wachsenden Wärme des Feuers. Das Schwarz der Farbe und der nächtlichen Natur wird als Kontrastmittel eingesetzt, um das sich auf die Leinwand projizierende Feuer als Anziehungspunkt hervorzuheben. Das Feuer tritt also ambivalent in Erscheinung als unruhig züngelndes Requisit, als Schein-werfer, als theatralisches Stimulans und andererseits als Wärmequell, als Urpunkt menschlicher Anziehung und Versammlung. Selbst diese Doppelzüngigkeit greift auf Romantisches zurück; man denke nur an Hölderlins Empedokles, der im Begehren, dem Ursprung des Lebens am nächsten zu sein, in des Aetna Flammen stürzt.
Durch den gezielten Einsatz des Feuers in einer Parklandschaft gelingt Barbara Nemitz in diesem Element auch eine stillschweigende Analogie zu einem Prinzip des englischen Landschaftsgartens. Das Feuer ist eine von Menschenhand gesteuerte, zwar kontrollierte, aber doch chaotisch wuchernde Existenz; auch die Landschaftsarchitekten im England des 18. Jahrhunderts wollten die ungezügelte Kraft der Natur, die vom Menschen lediglich sozusagen durch kosmetische Maßnahmen mitgestaltet wird. Hier wird die Endlichkeit des Menschen gegenüber den Elementen evoziert, die er beherrscht, solange er sie in den Grenzen menschliehen Maßes hält.
Auch viele Texte der unisono gesungenen Lieder greifen diesen Versuch des Menschen, Maß zu halten angesichts der Unendlichkeit des Universums, auf.
Die Nachtstimmung, die sich einerseits um die Feuerplätze mit ihren diaphanischen Bildern konzentriert, wird andererseits durch die wandernden und ruhenden Sänger wiederum verbreitet. Auch die Zuschauer, die ja Wanderer in dieser Welt sind, zerstreuen wieder die gebündelten Eindrücke und tragen sie in individuellen Erlebnissen durch die Parklandschaft. Diese erbauliche Inszenierung, welche dem Zuschauer das Zuschauen zugunsten eines aktiven Erlebensdranges nimmt, weist zuerst auf die Schäfer- und Hirtenspiele der galanten Zeit zurück. Der Mensch als homo ludens, der sich an der Natur und den Inszenierungen des Menschen darin erbaut. Aber die Atmosphäre der Nacht lässt auch diese Assoziation, die in eine aufklärerische, die Lichtmetaphysik propagierende Zeit führte, abtropfen in das Klima einer elegischen Romantik. Zentraler Ausgangspunkt ist die fast divergierende Spannung, welche die Künstlerin in der Art des musikalischen Vortrages auslegt. Das Unisono der Sänger weist auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen, auf Eintracht und gleiche Gesinnung; doch finden sich die Akteure nicht zu einer Gruppe zusammen. Gerade in ihrer Einstimmigkeit, die jeder sozusagen mit sich herumträgt, wird auch ihre Vereinzelung offenbar. Erneut drängt sich der Rückblick auf die Romantik auf, zumal die gewünschte Nachtstimmung mit ihrem beruhigenden Unisono meditative Züge erhält. Es sind die mit ein oder zwei Figuren in Rückenansicht besetzten Landschaftsbilder Caspar David Friedrichs, die vor einem auftauchen. Doch werden seine Figuren einer anderen Einsamkeit gewahr als die Sänger der Barbara Nemitz. Friedrichs Figuren sind bedrohte; meist sehen sie die Landschaft vor sich als Durchgangsland zu einem fernen Jenseits, das für sie unerreichbar ist; selbst der Grund, worauf sie zu stehen scheinen, wird oft zu einem haltlosen Abgrund. Der Mensch in inkommoden Verhältnissen, eine Welt ohne Bestand, die Nacht als drohendes Nichts, einstweilen noch gefüllt von den Nachtmahren Füsslis, den vernunftgeborenen Ungeheuern Goyas, aber schon starrend in den Nihilismus von Büchners Woyzeck.
Gleiches lässt sich über die nicht abgemalten, sondern lebenden Gestalten der Barbara Nemitz nicht sagen. Die Einsamkeit ihrer Sänger ist kein seelisches Befinden, sondern als erkenntnistheoretische Formel gebraucht: das Ich als, in und gegenüber der Natur. Hier findet die für die Bedeutung des Ganzen entscheidende Veränderung gegenüber der Romantik statt. Die Einsamkeit bekommt eine neue Qualität; sie führt weg von der Selbstsetzung des Ichs, wie es Novalis in seinen philosophischen Schriften formuliert, hin zu einem In-der-Welt-sein des Ichs, um mit Heidegger und Gerd Brand zu sprechen. Der singende Mensch ist zwar einsam, auf sich gestellt in seinem Empfinden und Erleben, aber er hat die Landschaft real vor oder unter sich, Der unterminierende Nihilismus der Romantik wird hier in einen Positivismus gewandelt. Das stimmungsvolle Ergehen und Erleben des Menschen findet seine Evidenz in der Natur. Das Zusammenspiel der Elemente, die Interferenz von Kunst und Natur ist die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis geworden. Diese Kantsche Phrase, die auf die Vernunftkritik zielt, füllt die Künstlerin mit Leben. Sie setzt der sonnenbesessenen Staatsvision aus Thomas Manns Der Zauberberg ihre heterogene, aber unisono eingestimmte Nachtgesellschaft entgegen. Die Wiesen und Rasenflächen, erfüllt von dem ruhigen Gesang, erinnern an elysische Felder, aber ohne jene romantische Jenseitsgestik.
Denn Barbara Nemitz trägt zwar die Vision jener Nachtinszenierungen vor sich her, doch will sie nicht visionär im Sinne eines transzendenten Impetus sein. Ihr Ziel ist es, ein ganzheitliches Erlebnis von Mensch, Natur und Welt zu vermitteln. Gleichzeitig setzt sie den einzelnen in diese und dieser Ganzheit als Repoussoir gegenüber. Wie Friedrichs Mönch am Meer, welcher der Dimensionslosigkeit des Alls gegenübersteht, nur nicht mit dessen düsterem Fatalismus macht sie den Menschen seine Endlichkeit begreifen. Das Ganze ist für den Menschen immer nur erahnbar, das Ding-an-sich weist über jede individuelle Erfahrung hinaus. Dies fasste schon Matthias Claudius: (Der Mond) Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön. / So sind wohl manche Sachen, / Die wir getrost belachen, / Weil unsere Augen sie nicht sehn. Als Ding-an-sich aber begreift Barbara Nemitz nichts Gegenständliches, sondern das Nachterlebnis des Menschen und das Erlebnis des Menschen in der Nacht selbst. Sie. heilt damit vorübergehend die Wunden, welche die Romantik in die Welt gerissen hat. Doch liegt darin keine Heilsbotschaft. Statt durch die Nacht in der Natur die Nacht der Natur heraufzubeschwören, versöhnt sie eine Weile lang die Menschen mit sich und der Welt. Gesang und Wandeln, diese Choreographie des Menschen in der Parklandschaft wird zur Antiphon eines künftigen Naturverhältnisses. Der nächste Schritt wäre die Geburt einer neuen Utopie.
Bernhard Buderath
Katalog „NACHTLANDSCHAFTEN - promenades nocturnes“, Berliner Festspiele, Berlin 1987
(…) Als ich die Fotografien nach den Tüchern der Barbara Nemitz betrachtete, fiel es schwer, mir die immense Größe dieser Bilder zu gegenwärtigen.
Jede Bildgröße, die eine bestimmte Beziehung zum menschlichen Körper übersteigt, wird leicht als übermenschlich und darum als anmaßend betrachtet, wenn ihr nicht zur Entschuldigung dient, daß Maschinen der Vergrößerung über Gebühr gedient hätten.
Barbara Nemitz malt ihre großen Tücher, sie malt sie aber im Siebdruck. D.h.: sie stellt nach der Anregung durch fotografische Vorlagen Kartonzeichnungen in den Größen der Originale her, sektioniert sie nach der Größe der Siebe, fotografiert die Teile, stellt Filme her, nach ihren Siebdruck-Schablonen und — nein, druckt nicht mit ihrer Hilfe, indem sie Farbschicht nach Farbschicht und Schablone nach Schablone wechselt, sondern gießt, träufelt, schabt Farbe in die Leermuster der Zelluloid-Formen so, daß eine hybride Form von Malereidruck oder Druckmalerei (zuweilen mit Passerfehlern, die so etwas wie Polarisationen erzeugen können) entsteht.
Der Herstellungsprozeß setzt die Wahrnehmung dieser großen Bilder in einen merkwürdigen Schwebezustand, weil sie ebenso drucktechnisch hergestellte Bildtapeten wie bemalte Leinwände sind. Und weil sie einerseits die Merkmale der Detailauflösung von extremen fotografischen Vergrößerungen zeigen, andererseits ihre Monumentalität aus den gemalten Formen ihrer Oberfläche beziehen.
Die Tücher hängen in großen Sälen. Das Licht fällt nicht auf sie, sondern durch sie hindurch. Sie leuchten. Sie sollen den Augen ein Fest bieten und „die Seelen der Betrachter streicheln" (Nemitz). Sie schaffen Vertrauen, weil sie die konventionelle Aura des Kunstwerkes ergänzen durch die von Industrieprodukten, die gesellschaftliche Trivialmythen verbildlichen.
Am Ende machen sie deutlich, daß es notwendig ist, die Trivialmythen beim Wort oder besser beim Bild zu nehmen. Warum sollte es nicht möglich sein, schlichtweg schöne, berauschende Bilder von Bergen und Wasserfällen zu malen?
Ich lernte das kleine oeuvre der Barbara Nemitz kennen, als ich mich mit Tendenzen in der zeitgenössischen Malerei zu beschäftigen begann, die nicht nur auf den zur Abstraktion neigenden Expressionismus der 50iger Jahre, sondern auf den der 10er Jahre, Fauvismus und Blauer Reiter zurückverweisen. In diesem Zusammenhang interessierte es mich als malerisches Ereignis voll unverschämter Farbenfreudigkeit und lustvoller Theatralität.
Wolfgang Becker
Katalog „Barbara Nemitz – Malereien“, Neue Galerie-Sammlung Ludwig, Wilhelm-Lehmbruck-Museum Duisburg, 1979
© Copyright 2024
Barbara Nemitz und VG Bildkunst, Bonn
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